Abstract: Die im Dezember 2022 in Kraft getretene Regelung zur Verteilung von aufgrund einer Infektionskrankheit knappen intensivmedizinischen Ressourcen (§ 5c IfSG) ist einer regen Diskussion ausgesetzt. Dieser Beitrag skizziert die verschiedenen Szenarien, in denen sich für die Normanwender*innen (insb. Ärzt*innen) die Frage stellt, ob die zu entscheidende Triage-Situation mithilfe der Vorgaben des § 5c IfSG gelöst werden muss, unter dem Aspekt, welche Bedeutung dem Kausalitätserfordernis der Infektionskrankheit zukommt.
A. Problemstellung: Eine Formulierung – viele Fallkonstellationen
Die Triage-Regelung des § 5c IfSG, eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes vom 8.12.2022[1] in Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.12.2021[2], hat sowohl im Vorfeld als auch zunehmend im Nachgang einiges an medialer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit erfahren. Neben den lebhaften Diskussionen zur Ex-post-Triage[3] und dem Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht[4] scheint aber ein Aspekt zu kurz gekommen zu sein, der schon den Anwendungsbereich der Triage-Regelung selbst betrifft: die Ursache der eine Zuteilungsentscheidung erfordernden Kapazitätsknappheit im engeren Sinne und deren Auswirkung auf die zu lösende Konkurrenz-Situation.
Die für dieses Problem entscheidende Passage der Triage-Regelung findet sich gleich zu Beginn der Norm in Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG, der dem nachfolgenden Regelungsgehalt gleichsam einer Programmatik deklaratorisch vorangestellt ist[5]: „Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) benachteiligt werden […].“ Hervorzuheben ist die Formulierung „aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandene[r] […] Behandlungskapazitäten“. Wird die Syntax unter Beibehaltung des Wortlauts umgestellt, lautet die Regelung: „Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten, die aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhanden sind, benachteiligt werden […]“. Die zunächst spitzfindig erscheinende Sezierung des Wortlauts hilft, das Problem zu verdeutlichen: Dem Wortlaut „aufgrund“ folgend, fordert § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG eine strenge Kausalität zwischen der übertragbaren Krankheit und der fehlenden Kapazität – mit der Konsequenz, dass die neu geschaffene Triage-Regelung unanwendbar ist, wenn überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten wegen anderer Ursachen, also nicht „aufgrund einer übertragbaren Krankheit“ knapp sind. Wie weit reicht aber dieses Kausalitätserfordernis? Um diese Frage zu beantworten, müssen verschiedene Konstellationen betrachtet werden.
I. Ausgangskonstellation
Sachverhalt: Die Anzahl intensivmedizinischer Geräte – hier seien als Beispiel Apparate zur „extrakorporalen Membranoxygenierung“ (ECMO)[6] genannt – ist begrenzt. Derzeit werden neun von zehn vorhandenen Geräten an Patient*innen mit jeweils der gleichen übertragbaren Krankheit gebraucht. Es werden zwei neue Patient*innen gleichzeitig in die Intensivstation eingeliefert, die ebenfalls an dieser Infektionskrankheit leiden und die beide die Behandlung mit einem ECMO-Gerät brauchen, um zu überleben.
Anwendbarkeit: Auf diesen Fall ist § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG unproblematisch anwendbar. Alle elf Patient*innen, welche die mit nur zehn Geräten nicht ausreichend vorhandenen Behandlungskapazitäten zum Überleben benötigen, leiden an der gleichen übertragbaren Krankheit i.S.d. § 2 Nr. 3 IfSG. Diejenige Infektionskrankheit, die nun bezüglich der beiden neuen Patient*innen ein Behandlungserfordernis auslöst, ist gleichzeitig die Ursache für die Kapazitätsknappheit. Es handelt sich um die Fallkonstellation, die der Gesetzgeber bei der Schaffung der Regelung vor Augen hatte[7] und die auch der anlassgebenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[8] zugrunde lag.
II. Erste Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt. Derzeit werden neun von zehn Geräten an Patient*innen mit jeweils verschiedenen Infektionskrankheiten gebraucht. Zwei neue Patient*innen werden gleichzeitig in die Intensivstation eingeliefert, die an anderen übertragbaren Krankheiten leiden und beide zum Überleben auf die Behandlung mit einem ECMO-Gerät angewiesen sind.
Anwendbarkeit: Auf diese Konstellation ist die geschaffene Triage-Regelung nur auf den ersten Blick eindeutig anwendbar. Es handelt sich jedenfalls nicht mehr um die Konstellation, die dem Gesetzgebungsverfahren in situativ-tatsächlicher Hinsicht zugrunde lag (die COVID-19-Pandemie), nämlich, dass alle an der Triage-Situation beteiligten Patient*innen an der gleichen übertragbaren Krankheit leiden. Die Unanwendbarkeit der Regelung in diesem Fall ließe sich mit dem Wortlaut begründen, der davon spricht, dass die Behandlungskapazitäten aufgrund „einer übertragbaren Krankheit“ (Singular) nicht ausreichen, nicht „aufgrund übertragbarer Krankheiten“ im Allgemeinen (Plural). Auch die Gesetzesbegründung spricht ausschließlich vom mit „einer übertragbaren Krankheit einhergehenden Infektionsgeschehen“ sowie von einer „Ursächlichkeit der übertragbaren Krankheit für die Verknappung der überlebenswichtigen […]kapazitäten“[9] [Hervorh. d. Verf.]. Für die Anwendbarkeit von § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG auch in der Konstellation, in der die bislang auf die intensivmedizinische Behandlungskapazität angewiesenen Patient*innen nicht alle an derselben, aber überhaupt an Infektionskrankheiten leiden, spricht hingegen, dass die Pandemiesituation (die typischerweise nicht durch verschiedene, sondern eine einzige häufig auftretende Infektionskrankheit verursacht wird) in der Norm nicht (mehr) ausdrücklich erwähnt wird. Diese Einschränkung hätte der Gesetzgeber jedoch regeln können, wenn der Anwendungsbereich ausschließlich auf Kapazitätsknappheit im Zusammenhang mit Pandemien beschränkt sein sollte. Das hat er – in Abkehr vom Referentenentwurf, in dem noch von „pandemiebedingter“ Kapazitätsknappheit die Rede war[10] – nicht getan. Zudem steht die Regelung innerhalb des Infektionsschutzgesetzes systematisch zwar im 2. Abschnitt, was mit der Entstehungsgeschichte der Norm auf zumindest eine – durch ein einziges Virus ausgelöste – Pandemie als „besondere Lage“ i.S.d. 2. Abschnitts des IfSG hinweist. Es ist indes nicht ausgeschlossen, dass eine besondere Lage auch durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren (also etwa zwei verschiedene grassierende Infektionskrankheiten) oder nur einen einzigen Faktor ausgelöst wird, der keine Infektionskrankheit darstellt (Naturkatastrophe[11] o.ä.).[12] Diese Auffassung wird dadurch gestützt, dass der Gesetzgeber die Überschrift des 2. Abschnitts gerade im Zuge der Einführung des § 5c IfSG von vormals „Koordinierung und epidemische Lage von nationaler Trageweite“ zu „Koordinierung und Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit in besonderen Lagen“ [Hervorh. d. Verf.] geändert hat, um die Überschrift an die Neuregelung anzupassen[13], obwohl der übrige Gesetzestext weiterhin nur „epidemische Lagen“ kennt. Der Anwendungskontext des § 5c IfSG ist also, anders als etwa § 5a IfSG, nicht auf eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ begrenzt. Die Norm ist daher auch bei Triage-Entscheidungen anwendbar, bei der unterschiedliche Infektionskrankheiten das Behandlungsbedürfnis und damit eine Kapazitätsknappheit auslösen.[14]
III. Zweite Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt, derzeit werden neun von zehn Geräten gebraucht, davon sieben Geräte von Patient*innen ohne für die Behandlung ursächliche Infektionskrankheiten, eines von einem Patienten mit Infektionskrankheit A und eines von einer Patientin mit Infektionskrankheit B. Es kommen gleichzeitig zwei neue Patient*innen mit Infektionskrankheiten auf der Intensivstation an, für deren Überleben jeweils das eine noch verfügbare ECMO-Gerät benötigt wird.
Anwendbarkeit: Ohne die behandlungsursächliche Infektionskrankheit des einen schon am ECMO-Gerät angeschlossenen Patienten wären noch zwei Geräte und damit eine ausreichende Anzahl für die beiden neuen Patient*innen mit Infektionskrankheit(en) vorhanden. Die Infektionskrankheit des einen Patienten ist also zumindest mit-kausal für die Kapazitätsknappheit, aufgrund derer nun hinsichtlich der beiden neuen Patienten eine Allokationsentscheidung notwendig ist. In den Konstellationen, in denen eine Infektionskrankheit zumindest anteilig ursächlich für eine Ressourcenknappheit ist, findet § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG Anwendung[15], wobei nicht eine Infektionskrankheit allein ursächlich sein muss. Wäre allerdings der Wortlaut des Referentenentwurfs Gesetz geworden („pandemiebedingt“), stellte sich das Ergebnis für diese Abwandlung anders dar: Da die Mehrheit der Ressourcen hier nicht pandemiebedingt (was stets eine übertragbare Krankheit voraussetzt) fehlt, sondern wegen nicht übertragbarer Krankheiten, wäre § 5c IfSG nicht anwendbar.
IV. Dritte Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt, derzeit werden neun von zehn Geräten ausschließlich von Patient*innen gebraucht, deren Behandlungsursache keine Infektionskrankheit ist. Es werden zwei neue Patient*innen gleichzeitig eingeliefert. Beide bedürfen zum Überleben einer Behandlung mit dem einzigen verbleibenden Gerät, leiden aber ebenfalls beide nicht an einer Infektionskrankheit.
Anwendbarkeit: Wie im Ausgangsfall und in der ersten Abwandlung gezeigt, muss es sich bei den Auslösern der Kapazitätsknappheit (und somit der Triagesituation) jedenfalls auch um Infektionskrankheiten handeln. Litten die bisher behandelten Patienten (oder jedenfalls einige von ihnen, vgl. zweite Abwandlung) an übertragbaren Krankheiten, wäre § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG unproblematisch anwendbar. Wie liegt es aber, wenn – wie hier – überhaupt keine Infektionskrankheiten vorliegen? Dem klaren Wortlaut nach ist die Regelung dann unanwendbar[16], was auch teleologisch durch den Umstand gestützt wird, dass Infektionskrankheiten für die Gesamtbevölkerung aufgrund ihrer Eigendynamik gefährlicher und unberechenbarer sind, wodurch sie sich von nicht übertragbaren Krankheiten grundlegend unterscheiden. Die Beschränkung des Anwendungsbereichs ist jedoch in erster Linie wohl darauf zurückzuführen, dass der Bundesgesetzgeber seine Regelungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG hier für unzureichend erachtet, um auch die Auswahlkriterien für anders verursachte Triage-Situationen zu normieren.[17] Angesichts der Tatsache, dass aber das Gewicht der zu fällenden Entscheidung zwischen der Behandlung zweier Menschen(-Leben), nämlich darüber, „wer überleben darf und wer sterben muss“, nicht zuletzt in seinem strafrechtlichen Kern dasselbe ist, gleich, ob die an der Entscheidungssituation beteiligten Patient*innen an einer übertragbaren oder einer nicht übertragbaren Krankheit leiden, besteht für den Gesetzgeber jedenfalls Handlungsbedarf, Triage-Kriterien auch für die hiesige Konstellation zu normieren.[18] Wenngleich das Bestehen einer Bundeskompetenz für eine Triage-Regelung ohne jeglichen Bezug zu Infektionskrankheiten (d.h. weder hinsichtlich der bei Eintritt der Kapazitätsknappheit bereits behandelten noch hinsichtlich der neu eingelieferten Patient*innen) zwar fraglich ist[19], wäre sie im Infektionsschutzgesetz jedenfalls ein Fremdkörper.[20]
V. Vierte Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt. Derzeit werden neun von zehn Geräten an Patienten gebraucht, die ausschließlich an nicht übertragbaren Krankheiten leiden. Zwei neue Patient*innen werden gleichzeitig eingeliefert. Beide leiden jeweils an einer Infektionskrankheit und brauchen das verbleibende ECMO-Gerät zum Überleben.
Anwendbarkeit: In dieser Konstellation liegt die Ursache dafür, dass die Mehrzahl der ECMO-Geräte bereits im Einsatz ist, jeweils in nicht-infektiösen Erkrankungen. Die Behandlungskapazitäten sind also nicht „aufgrund“ einer übertragbaren Krankheit knapp. Wie in der dritten Abwandlung gezeigt, ist die Anwendbarkeit des § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG deshalb für diese Konstellation ausgeschlossen. Allerdings ist denkbar, dass eine „besondere Lage“ im Sinne des 2. Abschnitts des IfSG – anders als zuvor die „epidemische Lage“ – auch durch andere Faktoren als durch Infektionskrankheiten ausgelöst werden kann[21], welche sich nun jedoch auf die Behandlungskapazität von Infektionskrankheiten auswirkt.[22] Im Unterschied zur dritten Abwandlung sind außerdem nun – als hinzukommende und um die verbleibenden ECMO-Geräte ringende Patient*innen – Personen an der Triage-Situation beteiligt, die an übertragbaren Krankheiten leiden. Zwischen diesen muss nun eine Triage-Entscheidung um das letzte ECMO-Gerät gefällt werden. Nicht zuletzt in Ermangelung einer Triage-Regelung für Fälle „ohne Infektionskrankheiten“ spricht einiges dafür, die Vergabe des letzten ECMO-Geräts nach den Kriterien des § 5c Abs. 2 IfSG zu entscheiden zu dürfen, obwohl die Normanwendung nach strenger Wortlautauslegung für diese Konstellation eigentlich ausgeschlossen ist. Wie im Ausgangsfall, in der ersten und in der zweiten Abwandlung liegt nun eine Situation vor, die eine Entscheidung zwischen zwei Menschenleben fordert, welche beide von einer übertragbaren Krankheit bedroht sind. Bei Fällen von Kapazitätsknappheit „aufgrund“ einer Infektionskrankheit erfolgt die Einbeziehung der neuen, konkurrierenden Patient*innen in die Zuteilungsentscheidung zwar unabhängig von der Ursache des individuellen intensivmedizinischen Behandlungserfordernisses.[23] Dann müsste jedoch eine Konkurrenzsituation, die zwar nicht hinsichtlich ihrer Ursache, aber hinsichtlich ihrer Wirkung mit der vorgestellten Pandemiesituation vergleichbar ist[24] (beide neuen Patient*innen leiden an einer Infektionskrankheit), erst Recht in den Anwendungsbereich von § 5c IfSG fallen können: Warum sollte diese vergleichbare Konfliktlage nicht ebenfalls anhand der in § 5c Abs. 2 IfSG genannten Kriterien aufgelöst und eine Entscheidung nicht ebenfalls nach diesen Kriterien gefällt werden (dürfen), insbesondere wenn andere rechtliche, normativ abgesicherte Priorisierungsvorgaben nicht ersichtlich[25] sind? Die Systematik spricht, wie in der ersten Abwandlung gezeigt, jedenfalls nicht gegen eine Anwendung der Norm auch außerhalb von Pandemiesituationen, sofern überhaupt ein Bezug zu einer Infektionskrankheit besteht. Gleiches gilt für den in § 1 Abs. 1 IfSG festgelegten Zweck des Infektionsschutzgesetzes, der u.a. in der Verhinderung der Weiterverbreitung, mithin der Bekämpfung der übertragbaren Krankheit liegt.[26] In dieser Konstellation spricht der eindeutige Wortlaut zwar gegen eine Anwendung des § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG[27], es lassen sich jedoch durchaus auch Argumente für dessen Anwendbarkeit finden.
VI. Fünfte Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt. Derzeit werden neun von zehn Geräten an Patient*innen gebraucht, die ausschließlich an nicht übertragbaren Krankheiten leiden. Zwei neue Patient*innen werden gleichzeitig eingeliefert, von denen eine*r an einer Infektionskrankheit leidet, der/die andere jedoch nicht.
Anwendbarkeit: Auch in dieser Konstellation ist die Kapazitätsknappheit nicht „aufgrund“ einer übertragbaren Krankheit eingetreten, was erneut gegen eine Anwendbarkeit von § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG spricht. Anders als in der vierten Abwandlung lassen sich hier jedoch auch keine überzeugenden Argumente für die Anwendbarkeit der Norm finden: Zwar gilt wieder, dass auch eine durch andere Faktoren als durch Infektionskrankheiten ausgelöste „besondere Lage“ sich auf die Behandlungskapazität von Infektionskrankheiten auswirken kann. Im Vergleich zur vierten Abwandlung betrifft diese Auswirkung aber nur eine/n der beiden potentiell von der Triage-Entscheidung betroffenen Patient*innen, nämlich den-/diejenige/n mit Infektionskrankheit. Die Situation, die hier aufgrund der Kapazitätsknappheit eine Triage-Entscheidung erfordert, ist also nicht vergleichbar mit den Konstellationen des Ausgangsfalls sowie der ersten, zweiten und vierten Abwandlung, in denen die Triage-Entscheidung jeweils zwischen zwei Patient*innen mit Infektionskrankheiten getroffen werden musste. Während die Anwendbarkeit in der vierten Abwandlung trotz Überdehnung des Wortlauts (also auch ohne kausale Verursachung der Kapazitätsknappheit durch Infektionskrankheiten) noch deshalb sinnvoll wäre, weil zumindest die dann eingetretene, ärztlich zu entscheidende Situation derjenigen entspricht, die der Gesetzgeber bei der Schaffung der Triage-Regelung vor Augen hatte (Triage in der Pandemie, daher Entscheidung zwischen zwei Patient*innen mit Infektionskrankheit), wirkt die Infektionskrankheit hier allenfalls wie ein zufällig hinzutretendes Element, das weder für die Herbeiführung noch für die Lösung der Triage-Situation maßgeblich ist. Die Konstellation hat mehr mit der dritten Abwandlung gemein als mit der vierten Abwandlung. Zwar steht außer Frage, dass auch hier eine schwierige Entscheidung zwischen zwei Menschenleben zu treffen ist, die gegebenenfalls einer strafrechtlichen Überprüfung standhalten muss. Die Anwendung von § 5c Abs. 1 S. 1 IfSG ist aber hier im Hinblick auf den entstehungsgeschichtlichen Kontext und den Wortlaut nicht der vorgesehene Lösungsweg.[28]
VII. Sechste Abwandlung
Sachverhalt: Die Anzahl der ECMO-Geräte ist begrenzt. Derzeit werden acht von zehn Geräten an Patient*innen gebraucht, die nicht an Infektionskrankheiten leiden. Eines von zehn Geräten beatmet eine/n Patient*innen mit einer Infektionskrankheit. Es werden zwei neue Patient*innen gleichzeitig eingeliefert, von denen keine/r an einer Infektionskrankheit leidet, beide brauchen aber zum Überleben eine Behandlung mit dem einzig verbleibenden Gerät.
Anwendbarkeit: Hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse, die eine Beschränkung der Norm auf Knappheitssituationen hervorruft, die zwingend „aufgrund“ einer Infektionskrankheit eingetreten sein müssen: Während in der vierten und in der fünften Abwandlung die Anwendung von § 5c IfSG deshalb ausgeschlossen war, weil bislang kein/e Patient*in mit Infektionskrankheit in dem entsprechenden Krankenhaus mit intensivmedizinischen Ressourcen behandelt wurde, obwohl die zu entscheidende Konkurrenzsituation jedenfalls in der vierten Abwandlung selbst durchaus „pandemietypisch“ war, soll nun die Anwendbarkeit durch das Hinzutreten eines einzigen Patient*innen mit einer Infektionskrankheit nach dem Willen des Gesetzgebers gegeben sein.[29] Hier sind aber insgesamt sogar weniger Patient*innen mit Infektionskrankheiten an der Konstellation beteiligt als in der vierten Abwandlung. Es handelt sich gewissermaßen um eine weniger „pandemietypische“ Situation. Aus Sicht der betroffenen Patient*innen stellt es sich als völliger Zufall dar, ob in dem Krankenhaus, in das sie gerade eingeliefert werden, schon ein einziger, für die Normanwendbarkeit „ausreichender“ Patient (nämlich mit einer Infektionskrankheit) intensivmedizinisch behandelt wird oder nicht: Wird ein einziger Patient mit einer Infektionskrankheit in das Krankenhaus eingeliefert, bevor die intensivmedizinische Behandlungskapazität knapp ist – unabhängig davon, ob dessen Erkrankung das „Infektionsgeschehen“ darstellt, mit dem die Anwendungsbeschränkung begründet wird[30] –, oder werden Patient*innen mit Infektionskrankheiten, die möglicherweise den Ausgangspunkt eines „Infektionsgeschehens“ darstellen, erst eingeliefert, nachdem die Behandlungskapazität schon erschöpft ist? Dieser zeitliche Zufall entscheidet über die Anwendbarkeit des § 5c Abs. 1 IfSG und somit über die rechtsstaatlich normierte Zuteilungsentscheidung.
B. Fazit
Der Gesetzgeber hat unter dem Eindruck von zweieinhalb Jahren Pandemie und des bundesverfassungsgerichtlichen Judikats nur die Konstellationen vor Augen gehabt, die durch Pandemiesituationen herbeigeführt werden können, ohne die vielfältigen weiteren Konstellationen zu regeln, die der Sache nach ebenfalls Triage-Entscheidungen hervorrufen.[31] Nach der jetzigen Formulierung des § 5c IfSG lässt sich die Anwendbarkeit für die dritte und die fünfte Abwandlung klar ausschließen. Die in der vierten Abwandlung beschriebene Konstellation ist eine Grauzone in Anbetracht der Vergleichbarkeit der Konkurrenzsituation zwischen den neuen Patient*innen (um die verbleibenden Ressourcen) mit der Konkurrenzsituation in pandemietypischen Lagen. Hier könnte es sich lohnen, den Anwendungsausschluss der Triage-Regelung zu überdenken.[32] Das gilt auch für die Frage, wie sich das Infektionsschutzrecht in den Konstellationen der dritten, vierten und fünften Abwandlung wegen der Unanwendbarkeit des § 5c IfSG im Umkehrschluss zu einer Ex-Post-Triage positioniert, die jedenfalls nach der „ganz überwiegenden Auffassung in der Strafrechtswissenschaft rechtswidrig“[33] ist. Überhaupt scheint die reine Fokussierung auf die Entstehungsweise der Kapazitätsknappheit[34] unglücklich.[35], weil die Bewältigung einer nicht (zumindest anteilig) durch eine Infektionskrankheit herbeigeführten, im Ergebnis aber gleichen pandemietypischen Triage-Situation[36] zwischen zwei infektiös erkrankten Patient*innen nicht mithilfe von § 5c IfSG gelöst werden darf. Zumindest aber Kriterien für eine Triage-Entscheidung, die überhaupt keinen Bezug zu Infektionskrankheiten aufweist (wie in der dritten Abwandlung), müssten außerhalb des Infektionsschutzgesetzes geregelt werden.[37]
DOI: 10.13154/294-9839
ISSN: 2940-3170
[1] BGBl. I S. 2235.
[2] BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20; vgl. Kubiciel/Wachter, medstra 2023, S. 86 ff.
[3] Gutmann/Fateh-Moghadam, ZRP 2022, S. 130-132; Hörnle, medstra 2022, S. 273-275; dies., Ex-post-Triage: Gründe für ihre Zulassung, in: medstra 2023 (i.E.).
[4] Engländer, Das Verhältnis des § 5c IfSG zu den allgemeinen strafrechtlichen Notrechten, in: medstra 2023 (i.E.); Kubiciel/Wachter, medstra 2023, S. 86 (89).
[5] Vgl. Kubiciel/Wachter, medstra 2023, S. 86 (87 ff.).
[6] „Technisches Verfahren zur maschinellen extrakorporalen Sauerstoffbeladung des Bluts und CO2-Elimination im Membranoxygenator. Indikationen sind z.B. das Atemnotsyndrom des Neugeborenen, Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS, ZB. Bei schweren COVID-19-Infektionen), die Überbrückung einer Herzinsuffizienz oder die CO2-Elimination bei dekompensierter Hyperkapnie“, Pschyrembel online, Stichwort „Extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO)“.
[7] Vgl. exemplarisch die Äußerungen von Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), MdB („Wie gravierend das sein kann, sehen wir gerade im aktuellen Drama um die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Gesetzgebung zur sogenannten Triage, für den Fall also, dass zum Beispiel pandemiebedingt die überlebensnotwendigen intensivmedizinischen Ressourcen nicht mehr für alle ausreichen und entschieden werden muss […]“), Stenografischer Bericht der 34. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12.05.2022, Plenarprotokoll 20/34, S. 3167sowie von Katrin Helling-Plahr (FDP), MdB, in der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses am 19.10.2022 („[…] zum anderen wird darüber diskutiert, ob wir nicht auch über die pandemiebedingte Triage hinaus als Bundesgesetzgeber etwas regeln müssten.“, Wortprotokoll der 41. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags, Protokoll 20/41, S. 17).
[8] Die Verfassungseschwerden richteten sich explizit „gegen das Unterlassen staatlicher Maßnahmen, die Beschwerdeführenden vor Benachteiligungen wegen ihrer Behinderung im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung im Laufe der Coronavirus-Pandemie wirksam zu schützen“, BVerfG v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20.
[9] BT-Drs. 20/3877, S. 19.
[10] Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, Bearbeitungsstand 02.06.2022, abrufbar unter http://liga-selbstvertretung.de/wp-content/uploads/2022/06/220602_Referentenentwurf_Triage.pdf (letzter Aufruf: 04.04.2023).
[11] Mit diesem Beispiel schon Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9, obgleich auch Infektionskrankheiten zu Naturkatastrophen zählen, Schaks, in: Kluckert, Das neue Infektionsschutzrecht, 2021, § 14 Rn. 4.
[12] Vgl. Huster, in: Hörnle/Huster/Poscher, S. 83 (84), der betont, dass eine typische Triage-Situation auch durch eine Katastrophe, ein Notfall, einen Unfall oder ein ähnliches Unglück ausgelöst werden kann.
[13] BT-Drs. 20/3877, S. 18 f.
[14] So auch Kubiciel/Wachter, in: medstra 2023, S. 86.
[15] BT-Drs. 20/3877, S. 19; Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9.
[16] Zustimmend Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9.
[17] Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9.
[18] Frister, Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes, Ausschuss-Drs. 20(14)60(8), S. 2; vgl. erneut die o.g. Frage von Katrin Helling-Plahr (FDP), MdB, in der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses am 19.10.2022 („[…] zum anderen wird darüber diskutiert, ob wir nicht auch über die pandemiebedingte Triage hinaus als Bundesgesetzgeber etwas regeln müssten.“), Wortprotokoll der 41. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags, Protokoll 20/41, Nr. S. 17.
[19] Zu bedenken ist, dass der Bundesgesetzgeber auch die Kompetenz für die Regelung von Maßnahmen gegen „gemeingefährliche Krankheiten“ besitzt, also solche, die „schwer und verbreitet“ sind, Kment, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 17. Aufl., 2022, Art. 74 Rn. 49. Die Regelung von Triage-Situationen im Hinblick auf intensivmedizinische Ressourcen auf der Grundlage dieses Kompetenztitels scheint jedenfalls nicht evident ausgeschlossen.
[20] Vgl. § 1 Abs. 1 IfSG: „Zweck des Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern“.
[21] Vgl. unter A.II.
[22] Vgl. Hörnle, in: medstra 2022, S. 273: „Pandemien oder andere Katastrophen können zu extremen Notlagen führen, mit der Folge, dass nicht mehr alle Erkrankten und Verletzten in akut lebensbedrohlichen Zuständen notfall- und intensivmedizinisch versorgt werden können“.
[23] BT-Drs. 20/3877, S. 20.
[24] Vgl. Gutmann/Fateh-Moghadam, in: ZRP 2022, S. 130 (131), die die Entstehung der Regelung unter dem Eindruck der Pandemie betonen: „Im vorliegenden Kontext konkurrieren jedoch regelmäßig vergleichbar hochdringliche Patienten um den Zugang zu einer Intensivtherapie […]“.
[25] Vgl. Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 1.
[26] Kießling, in: dies., IfSG Kommentar, 3. Aufl., 2022, § 1 Rn. 9.
[27] Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9.
[28] Prägnant Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 9, mit dem Hinweis, dass § 5c keine allgemeinen Regeln für eine Triage in Deutschland aufstelle.
[29] BT-Drs. 20/3877, S. 20; Eckart, in: BeckOK InfSchR, 15. Ed., 10.01.2023, § 5c IfSG Rn. 32.
[30] BT-Drs. 20/3877, S. 19.
[31] Ähnlich Hübner, in: DMW 2023, S. 55; siehe überblicksartig Brech, Triage und Recht, 2008, S. 32 ff.
[32] Andeutend auch Engländer, Das Verhältnis des § 5c IfSG zu den allgemeinen strafrechtlichen Notrechten, in: medstra 2023 (i.E.): „Zum anderen enthält die Regelung womöglich Implikationen, die über ihren direkten Anwendungsbereich hinausweisen“.
[33] Gutmann/Fateh-Moghadam, in: ZRP 2022, S. 130 (132) m.w.N.
[34] Kubiciel/Wachter, in: medstra 2023, S. 86, bezeichnen den Anwendungsbereich jedenfalls als „schmal“.
[35] Treffend Kubiciel/Wachter, in: medstra 2023, S. 86: „Dass das […] gesetzte Recht dem Realitätstest standhält, ist zu bezweifeln“.
[36] Mit Betonung dieser Vielzahl von Entstehungsmöglichkeiten einer Triage-Situation Horter, in: medstra 2023, S. 10.
[37] Frister, Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes, Ausschuss-Drs. 20(14)60(8), S. 2, mit dem Hinweis, dass in der Gesetzesbegründung zumindest auf eine entsprechende Anwendung der in § 5c IfSG-E kodifizierten Wertungen hingewiesen werden solle.
Schreibe einen Kommentar