A. Reformbedarf im Transplantationsmedizinrecht
Jeden Tag sterben drei Menschen, die ein medizinisch dringend benötigtes Spenderorgan nicht rechtzeitig erhalten, auf den Wartelisten der Transplantationszentren. [1] Die Zahl der tatsächlichen Spenderorgane bleibt weit hinter der Zahl der medizinisch benötigten Organe zurück. Nach dem Jahresbericht der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) für das Jahr 2021 standen am 31.12.2021 8730 benötigten Organen lediglich 2.979 transplantierte Spenderorgane gegenüber. [2] Die Situation im Jahr 2022 war noch ungünstiger: Die Zahl der Organspender ist erneut um acht Prozent zurückgegangen. [3] Die deutsche Gesundheitspolitik sucht daher seit Jahren nach Wegen, um die Zahl der Personen zu erhöhen, die zu einer postmortalen Organspende bereit sind. 2019 wurde das „Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ erlassen. [4] Ziel dieses Gesetzes war es, die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen der Organspende zu verbessern. Zu nennen sind insbesondere Regelungen über die Stellung der Transplantationsbeauftragten (§ 9b TPG) und die Vergütung der Entnahmekrankenhäuser durch die pauschale Abgeltung ihrer Leistungen (§ 9a Abs. 3 TPG). Die Einführung der sog. „Widerspruchslösung“ ist hingegen politisch gescheitert (s. unten II.). Auch deswegen schneidet Deutschland im internationalen Vergleich schlecht ab: Während Österreich, wo die Widerspruchslösung gilt [5], beim Aufkommen an Spenderorganen im internationalen Vergleich den dritten Rang belegt, findet sich Deutschland auf Platz 19 wieder. [6] Das Transplantationsrecht in Deutschland steht daher nach wie vor unter Reformdruck. [7] Gleichwohl findet eine diesbezügliche Diskussion derzeit kaum mehr statt. Dies steht in einem bemerkenswerten Kontrast zur deutschen Coronapolitik. Während diese maßgeblich von der politisch stark betonten Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit geprägt wurde und sich in härtesten Schutzmaßnahmen manifestierte, ist das Transplantationswesen vom gesundheitspolitischen Radar weitgehend verschwunden. Den Gründen dafür sei hier nicht näher nachgegangen. Sie bedürften einer eigenen interdisziplinären wissenschaftlichen Untersuchung, die auch die Konsequenzen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen auf die Transplantationsmedizin empirisch in den Blick nehmen müsste. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es vielmehr, die politische Reformdiskussion über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Transplantationsmedizin wieder anzustoßen. Dazu werden drei Vorschläge unterbreitet: Erstens sollte die Diskussion um die Widerspruchslösung wieder aufgenommen werden (sogleich B.). Zweitens bestehen bei der Organlebendspende Änderungspotenziale (C.). Schließlich sollte stärker über Anreizlösungen diskutiert werden, etwa über ein Reziprozitätsmodell (D.).
B. Die Widerspruchslösung
Die Widerspruchslösung stand bereits vor einigen Jahren im Zentrum der Reformdebatte, ihre Einführung scheiterte jedoch im Januar 2020 im Deutschen Bundestag (I.). Die gegen die Widerspruchslösung vorgebrachten verfassungsrechtlichen Argumente überzeugen nicht (II.). Allerdings müsste ihre Einführung von angemessenen Übergangsregelungen begleitet sein (III.).
I. Das politische Scheitern der Widerspruchslösung 2020
Im Januar 2020 lagen dem Deutschen Bundestag zwei Gesetzentwürfe zur Reform des Transplantationsgesetzes vor: (1) Der „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ [8] sowie (2) der „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung“ [9]. Anliegen beider Entwürfe war es, die Zahl der postmortalen Spenderorgane zu erhöhen. Während sich der erste Entwurf im hergebrachten Rahmen des gegenwärtigen Modells der (erweiterten) Zustimmungslösung bewegte, wonach eine postmortale Organentnahme nur zulässig ist, wenn und soweit der Betroffene selbst oder die Angehörigen (unter Beachtung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen) der Organentnahme zugestimmt haben (§§ 3, 4 TPG), zielte der zweite Entwurf auf einen Paradigmenwechsel: Eine postmortale Organentnahme sollte bereits dann zulässig sein, wenn der Betroffene nicht widersprochen hat und auch den Angehörigen kein Widerspruch bekannt ist. In der Abstimmung am 16.01.2020 im Deutschen Bundestag erhielt der erste Entwurf eine Mehrheit, der zweite scheiterte: In namentlicher Abstimmung votierten 379 Abgeordnete dagegen, 292 Parlamentarier unterstützten ihn bei drei Enthaltungen. Die doch relative knappe Ablehnung zeigt, dass die Widerspruchslösung sich durchaus einer beachtlichen Unterstützung erfreute. Da sich die Hoffnungen auf eine Steigerung der Zahl der Organspenden, die mit dem ersten, mehrheitsfähigen Gesetzentwurf [10] verbunden waren, bisher nicht erfüllt haben, sollte die Debatte über die Widerspruchslösung wiederaufgegriffen werden. [11]
II. Verfassungsmäßigkeit der Widerspruchslösung
Im Zentrum der Diskussion in den Jahren 2019 und 2020 stand vor allem die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Widerspruchslösung, insbesondere, ob es mit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und seinem Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) vereinbar sei, ihn zum Gegenstand einer Fiktion zu machen: Denn jede Person – so hieß es in Nr. 2 des o.g. Entwurfes (§ 1 Abs. 1 TPG n.F.) – „gilt als Organ- oder Gewebespender, es sei denn es liegt ein zu Lebzeiten erklärter Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille vor“. Dazu entspann sich ein grundsätzlicher Disput unter Verfassungs- und Medizinrechtlern. [12] Mitunter wurde die Widerspruchslösung sogar in die Nähe eines Verstoßes gegen die Würde des Menschen gerückt [13] und damit als gravierendster aller Verfassungsverstöße diskreditiert. Dieses harte verfassungsrechtliche Verdikt überrascht schon deswegen, weil die Widerspruchslösung in vielen europäischen Ländern, z.B. in Österreich [14], seit langer Zeit Anwendung, findet. Da einige dieser Länder – wie auch Deutschland – in das „Eurotransplant“-System eingebunden sind, werden Organe aus Ländern mit Widerspruchslösung auch an Patienten in Deutschland vermittelt und diesen übertragen. Das bedeutet: Einem Patienten in Deutschland kann über Eurotransplant ein Organ aus dem Ausland vermittelt werden, das nach bisherigem deutschem Recht nicht entnommen werden dürfte. [15] Immerhin hat das BVerfG in einer (Kammer-)Entscheidung vom 18.2.1999 bereits im Hinblick auf die geltende erweiterte Zustimmungslösung (§§ 3, 4 TPG), die im Falle der fehlenden Zustimmung des Betroffenen eine Zustimmung der Angehörigen ermöglicht, festgestellt: Es verstoße nicht gegen Grundrechte, dass zur Abwehr einer postmortalen Organentnahme … ein Widerspruch erklärt werden müsse. [16] Angesichts dessen ist es jedenfalls nicht fernliegend anzunehmen, dass das BVerfG auch einer (echten) Widerspruchslösung den verfassungsrechtlichen Segen erteilen könnte. Es besteht daher kein Anlass, die Diskussion über die Widerspruchslösung unter Verweis auf ihre (angebliche) Verfassungswidrigkeit gar nicht erst (wieder) zu führen. Blickt man sine ira et studio auf dieses Modell, wird sich eine Verfassungswidrigkeit nicht ernsthaft begründen lassen. Denn das aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) folgende Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen bleibt bewahrt. Gegen seinen Willen wird niemand rechtmäßigerweise zum Organspender. Jede Person kann sich für oder gegen eine Organspende entscheiden – entscheidet er sich dagegen, muss er indes einen Widerspruch erheben und dokumentieren. Allenfalls könnte man darin ein selbstbestimmungsrelevantes Problem sehen, dass der Einzelne sich überhaupt mit dem Thema Organspende befassen und dann ggf. aktiv werden muss. Sieht man bereits in einer solchen Befassungsobliegenheit einen Eingriff in ein aus dem Selbstbestimmungsrecht folgendes Recht, vor der Thematik „Organspende“ verschont zu bleiben, also diesbezüglich in Ruhe gelassen zu werden, so ließe sich dieser als geringfügig anzusehende Eingriff ohne Weiteres mit der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 GG rechtfertigen, für eine ausreichende Zahl an Spenderorganen zu sorgen.
III. Notwendigkeit von Übergangsregelungen
Die Widerspruchslösung wäre gegenüber dem bisherigen Modell der erweiterten Zustimmungslösung (§§ 3, 4 TPG) ein Paradigmenwechsel. Dabei taucht ein Problem auf, das man als „Überrumpelungseffekt“ bezeichnen könnte: [17] Jeder Systemwechsel hat Wechselgewinner und -verlierer. Mögliche „Verlierer“ sind diejenigen Personen, die von dem Systemwechsel faktisch keine Kenntnis erhalten oder deren Tragweite nicht begreifen, sich mit ihm nicht befassen wollen oder auf ihn faktisch nicht reagieren können. Nach dem Inkrafttreten einer Widerspruchslösung würde jede Person im Falle ihres Hirntodes (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) zum Organspender, wenn sie nicht rechtzeitig widerspricht, selbst wenn sie von der neuen Widerspruchskonzeption gar nichts weiß oder aus faktischen Gründen (etwa mangelnder Einsichtsfähigkeit) nicht zu widersprechen in der Lage ist. Der Gesetzgeber wäre im Falle der Einführung einer Widerspruchslösung zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen verpflichtet, verfahrensrechtliche Vorkehrungen gegen solche Überrumpelungs- oder Mitnahmeeffekte zu treffen. Hierzu gehören großzügige Übergangsfristen ebenso wie die Bereitstellung eines niederschwelligen und zuverlässigen Register- oder Dokumentationssystems sowie Aufklärungs- und Informationskampagnen einschließlich Vorgaben zu deren Evaluation.
C. Reformüberlegungen zur Lebendorganspende
Der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte 2019 zusätzlich eine Diskussion über eine Reform der bisher in § 8 TPG sehr restriktiv geregelten Lebendorganspende angeregt [18], ohne den Vorstoß allerdings inhaltlich zu konkretisieren. Ausgehend vom gegenwärtigen Regelungsrahmen der Organlebendspende (I.) lassen sich zwei Reformansätze ausmachen [19]: Die Aufhebung des Nachrangigkeitsprinzips (II.) sowie die Erweiterung des potenziellen Empfängerkreises (III.).
I. Der gegenwärtige Rechtsrahmen der Lebendorganspende
Die Entnahme von Organen bei lebenden Personen ist in § 8 TPG geregelt. Der Gesetzgeber lässt die Lebendorganspende zwar ausdrücklich zu, unterwirft sie indes strengen verfahrensmäßigen (1) und materiellen (2) Voraussetzungen, um das Selbstbestimmungsrecht des Spenders zu wahren, seine Gesundheit zu schützen und Kommerzialisierung (Stichwort „Organhandel“) auszuschließen.
(1) Die Entnahme von Organen lebender Personen ist nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 TPG nur zulässig, wenn diese volljährig und einwilligungsfähig sind, hinreichend aufgeklärt worden sind und in die Entnahme eingewilligt haben. Hinzukommen muss, dass nach ärztlicher Beurteilung die spendende Person als Spender geeignet ist und voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt wird. Zusätzlich muss die Übertragung des Organs auf den vorgesehenen Empfänger nach ärztlicher Beurteilung geeignet sein, das Leben dieses Menschen zu erhalten oder bei ihm eine schwerwiegende Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern. § 8 Abs. 2 TPG stellt an die Aufklärung des Spenders besondere Anforderungen. § 8 Abs. 3 TPG sieht vor, dass bei einem Lebenden die Entnahme von Organen erst durchgeführt werden kann, nachdem sich der Spender und der Empfänger zur Teilnahme an einer ärztlich empfohlenen Nachbetreuung bereit erklärt haben. Weitere verfahrensrechtliche Voraussetzung ist nach § 8 Abs. 3 Satz 2 TPG, dass eine nach Landesrecht zuständige Kommission gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 TPG ist. Blickt man insgesamt auf diese verfahrensrechtlichen Regelungen, so wird deutlich, dass der Gesetzgeber um den Schutz des Selbstbestimmungsrechts der spendenden Person, insbesondere um die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung, besorgt ist und dieses insbesondere durch Aufklärung und die Einschaltung einer Ethikkommission sichern will. Daran wird man zumindest im Grundsätzlichen festhalten müssen.
(2) In materieller Hinsicht postuliert § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 TPG den Grundsatz der Nachrangigkeit oder Subsidiarität: Eine Organentnahme bei Lebenden ist nur zulässig, wenn ein geeignetes Organ im Rahmen einer postmortalen Organspende nach § 3 und § 4 TPG zum Zeitpunkt der Organentnahme nicht zur Verfügung steht. Hier besteht Reformpotenzial (s. sogleich II.). Die entscheidende materielle Einschränkung der Lebendorganspende findet sich in § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG: die Entnahme einer Niere, des Teils einer Leber oder anderer nicht regenerierungsfähiger Organe ist nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte des ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen. Der Gesetzgeber hat die Lebendorganspende also auf den persönlichen Nahbereich beschränkt. Damit soll insbesondere der Kommerzialisierung der Organlebendspende entgegengewirkt werden. Die Schwierigkeit des § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG besteht darin, was unter „in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“ zu verstehen ist. Zwischen (lebendem) Spender und Empfänger muss nicht nur eine besondere persönliche Verbundenheit bestehen, diese muss zudem „offenkundig“ sein. [20] Nach dem Gesetzeswortlaut dürfte das Entstehen einer besonderen persönlichen Verbundenheit gerade erst durch und für die Lebendspende nicht genügen, sie muss vorher schon bestehen. Dies ist freilich in der juristischen Literatur umstritten. [21] Jedenfalls unzulässig sind momentan nach dem TPG anonyme Lebendspenden und darauf aufbauende Pool- oder Clubmodelle. [22] Auch die sog. „Cross-Over“/Überkreuz-Lebendspende“ [23] dürfte derzeit an § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG scheitern, es sei denn man ließe ein persönliches Kennenlernen zum Zwecke der Organspende für die Begründung einer besonderen persönlichen Verbundenheit genügen. [24] Ähnliche Probleme stellen sich bei sog. Ringtauschlösungen. [25] Es besteht daher gesetzgeberischer Handlungs-, mindestens Klarstellungsbedarf (s. unten III.)
II. Aufhebung des Nachrangigkeitsprinzips
Die durch § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 TPG erfolgte Verknüpfung von Lebendorganspende mit dem Nicht-Zur-Verfügung-Stehen eines postmortal gespendeten Organs nach §§ 3, 4 TPG ist nicht überzeugend. Denn durch die Zulassung der Lebendorganspende trotz Existenz eines postmortal gespendeten Organs eines anderen (hirntoten) Spenders würde dieses quasi „frei“ und könnte einem anderen Bedürftigen übertragen werden. § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 TPG führt also letztlich zu einer (kontraindizierten) Verminderung der potenziell zur Verfügung stehenden Organe. [26] Zwar wird es in der Regel so sein, dass eine Person nur dann zur Lebendspende bereit ist, wenn demjenigen, auf den das Organ übertragen werden soll, auf andere Weise, insbesondere durch ein postmortal gespendetes Organ, nicht zu helfen ist. Vorstellbar ist aber ebenso, dass eine andere Motivation den Spendewunsch bestimmt, etwa das Bedürfnis nach altruistischer Hilfe im persönlichen Näheverhältnis. Zudem wird dem Empfänger durch die Regelung dann eine schlechtere medizinische Behandlung aufgezwungen, wenn das Lebendspendeorgan für den Organempfänger besser geeignet wäre als das postmortal gespendete, aber vorrangig zu berücksichtigende Organ. [27] Da durch die oben bei I. skizzierten strengen verfahrensrechtlichen Vorgaben dem Selbstbestimmungsrecht der spendewilligen Person hinreichend Rechnung getragen wird, ist kein verfassungsrechtlich durchgreifender Grund dafür ersichtlich, die Lebendspende unter einen Subsidiaritätsvorbehalt zu stellen. Über die Streichung des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 TPG sollte daher nachgedacht werden.
III. Erweiterung des Empfängerkreises
Ein zweiter Reformansatz bei der Lebendspende könnte dahin gehen, die Beschränkung auf den persönlichen Nahbereich in § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG aufzuheben oder zu lockern. Desiderat wäre es vor allem, die Anforderung „in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“ zu präzisieren und um Fälle der Ringtausch- oder Cross-Over-Spende zu erweitern. Dadurch könnte ein erheblicher Beitrag zu der in diesem sensiblen Bereich so wichtigen Rechtssicherheit geleistet werden. Diskussionsbedürftig ist zudem, auf das einengende Kriterium der besonderen persönlichen Verbundenheit zu verzichten und damit auch die gänzlich altruistische Organlebendspende zuzulassen. Dafür müsste freilich sichergestellt werden, dass die bisher schon bestehenden verfahrensrechtlichen Flankierungen (oben I.) zum Schutz der Freiwilligkeit und zur Vermeidung von Organhandel weiter gelten, insbesondere die besondere Prüfungspflicht der Ethikkommission. Unter dieser Voraussetzung müsste die altruistische Lebendspende aus verfassungsrechtlicher Sicht zugelassen werden: Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Perspektive ist zum einen das grundrechtliche Paradigma der Selbstbestimmung des Spenders, das untrennbar mit dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verknüpft ist und das Kriterium der Freiwilligkeit verfassungsrechtlich absichert. Der Gesetzgeber hat zum anderen aus der Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) eine verfassungsrechtliche Pflicht, für ein funktionsfähiges Transplantationswesen zu sorgen. Dazu gehört – neben der Gewährleistung eines effektiven organisationsrechtlichen Rahmens für das Transplantationswesen – auch ein geeigneter Regelungsrahmen, um eine bedarfsgerechte Anzahl an Spenderorganen zu generieren. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere die Grundrechte der Spender und der Empfänger zu beachten. Auch die Lebendspende ist zweifelsfrei vom Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst. Eine gesetzliche Beschränkung der Lebendspende – wie sie sich in § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG darstellt – ist aber nicht nur als Grundrechtseingriff auf Seiten des potenziellen Lebend-Spenders zu qualifizieren, sondern auch als mittelbarer Grundrechtseingriff auf Seiten des potenziellen Empfängers. Diese Eingriffe lassen sich nur rechtfertigen, wenn dafür verfassungsrechtlich legitime Zwecke angeführt werden können, zu deren Realisierung die Einschränkungen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig erscheinen. Zweifelsohne dienen die verfahrensrechtlichen Anforderungen, insbesondere die Beteiligung einer Ethikkommission dazu, Organhandel, Organspenden ohne Freiwilligkeit in familiären oder sonstigen Drucksituationen oder sonstige Fälle der Nichtfreiwilligkeit auszuschließen. Hierdurch erfüllt der Staat seine grundrechtliche Schutzpflicht gegenüber potenziellen Spendern, die sich möglicherweise unfreiwillig zur Organspende bereit erklären. Kein verfassungsrechtlich legitimer Zweck ist indes für die Beschränkung des potenziellen Kreises der Empfänger auf den persönlichen Nahbereich erkennbar. Zwar steht auch hier der berechtigte Schutz des potenziellen Spenders vor unüberlegten, voreiligen oder kommerziell motivierten Spenden im Raum. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des einzelnen potenziellen Spenders ist ohne Zweifel ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck. Dieser rechtfertigt jedoch nicht das ausnahmslose Verbot der Organlebendspende außerhalb des persönlichen Nahbereichs. Vielmehr sind es gerade die bereits vorhandenen verfahrensrechtlichen Flankierungen, die auch außerhalb des persönlichen Nahbereichs die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts ermöglichen können. Insbesondere die Beteiligung der Lebendspende-Ethikkommission und deren Prüfung, ob im Einzelfall außerhalb des Nahbereichs tatsächlich das Selbstbestimmungsrecht gewahrt bleibt oder kommerzielle oder sonstige sachfremde Erwägungen eine Rolle spielen, erscheint als geeigneter, aber auch ausreichender Mechanismus zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts. Insoweit könnte man auch an eine Ausweitung der verfahrensrechtlichen Flankierungen denken, etwa an eine Vergrößerung der Ethikkommission in solchen Fällen oder an besondere Ermittlungspflichten der Ethikkommission bei Organlebendspenden außerhalb des persönlichen Nahbereichs. Der paternalistisch motivierte Schutz des Spenders vor sich selbst ist für sich allein genommen kein geeignetes Argument zur Rechtfertigung des Verbots altruistischer Lebendspende.
D. Gegenseitigkeitsmodelle
Gelegentlich werden auch neue Modelle oder „Lösungen“ in die Debatte geworfen, mit denen eine Erhöhung der Anzahl postmortaler Organspenden erreicht werden soll. Eines dieser Konzepte ist das Gegenseitigkeits- oder Reziprozitätsmodell. Nach diesem soll nur diejenige Person im Falle ihrer Bedürftigkeit ein Organ erhalten oder zeitlich bevorzugt erkalten, die sich zuvor auch selbst zur postmortalen Organspende bereit erklärt hat.[28] Der Präsident der Bundesärztekammer hat sich dazu vor einiger Zeit wie folgt eingelassen: „Den Empfang eines Spenderorgans von der eigenen Bereitschaft zur Spende abhängig zu machen, finde ich diskussionswürdig. Wer bereit ist zu geben, kann bevorzugt empfangen“ [29]. Zwar wird ein solches Gegenseitigkeits- oder Reziprozitätsmodell in Deutschland noch nicht als grundsätzliche politische Option [30] diskutiert. Angesichts seiner zumindest intuitiven Überzeugungskraft erscheint es indes nicht ausgeschlossen, dass die Debatte um dieses Modell an Fahrt aufnehmen wird. Es wirft allerdings nicht nur erhebliche praktische Probleme auf (etwa: Zu welchem Zeitpunkt muss die eigene Spendebereitschaft erklärt werden? Wie erfolgt die Dokumentation etc.), sondern impliziert auch schwierige verfassungsrechtliche, zumal grundrechtliche Fragen. Diese können im Rahmen dieses Beitrages nicht umfassend aufbereitet, sollen aber wenigstens abgesteckt werden [31]: (1) Da die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen formal gewahrt bleibt, stellt sich die Frage, ob sich das Selbstbestimmungsrecht zumindest einem faktischen, durch die Drucksituation der Reziprozität bewirkten grundrechtsrelevanten Eingriff ausgesetzt sieht. (2) Bejaht man einen solchen Eingriff, stellt sich das Problem der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. [32] Kann eine Differenzierung zwischen spendebereiten und nicht spendebereiten Personen bei der (späteren) Zuteilung von Organen (3) vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG und (4) der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates auch gegenüber der nicht spendebereiten Person Bestand haben? [33] Die grundrechtliche und medizinrechtliche Diskussion zu diesen Fragen sollte an Fahrt aufnehmen. [34]
E. Fazit
Das Aufkommen an Spenderorganen in Deutschland ist nach wie vor zu niedrig. Deutschland steht insofern im internationalen Vergleich schlecht da. Das Transplantationsrecht steht daher weiterhin unter Reformdruck. Mindestens drei Desiderate lassen sich formulieren: Die Widerspruchslösung sollte wieder auf die gesundheitspolitische Tagesordnung gesetzt werden, sie lässt sich verfassungskonform ausgestalten. Zweitens sollten Reformpotenziale bei der Organlebendspende genutzt, insbesondere beim Nachrangigkeitsprinzip und beim Zuschnitt des Empfängerkreises. Zudem sollte verstärkt auch über Konzepte diskutiert werden, die Anschluss an ökonomische Anreizmodelle finden, zumal über das Reziprozitätsmodell.
DOI: 10.13154/294-9583
ISSN: 2940-3170
[1] Sommer/Anthuber, in: Lindner, Transplantationsmedizinrecht, 2019, S. 15, 16.
[2] https://www.dso.de/SiteCollectionDocuments/DSO-Jahresbericht%202021.pdf (zuletzt abgerufen am 27.12.2022).
[3] Zahl nach FAZ vom 04.11.2022, S. 4 („Weniger Organspender. Minus von 8 Prozent im Vergleich zu 2021“).
[4] Gesetz vom 22.03.2019, BGBl I S. 352.
[5] Zur Rechtslage in Österreich nach dem öOTPG s. Bruckmüller, MedR 2022, 809; Bernat, in: Lindner, Transplantationsmedizinrecht, 2019, 123.
[6] Zahlen nach Bruckmüller, MedR 2022, 809.
[7] Schoth, in: Lindner, Transplantationsmedizinrecht, 2019, 37.
[8] BT-Drs. 19/11087.
[9] BT-Drs. 19/11096.
[10] Dieser setzt auf eine stärkere Aufklärung und Information der Bevölkerung (v.a. durch Hausärzte, vgl. § 2 Abs. 1a TPG) und auf die Einführung eines Organspenderegisters, welches allerdings bislang nicht implementiert werden konnte; vgl. § 2a TPG.
[11] Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat im Juni 2022 die Widerspruchlösung erneut ins Spiel gebracht: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/zu-wenig-organspenden-karl-lauterbach-will-widerspruchsloesung,T7fktUk (letzter Abruf am 27.12.2022).
[12] Vgl. etwa Huster, VerfBlog https://verfassungsblog.de/abnutzungskaempfe-an-der-falschen-front-zur-widerspruchsloesung-bei-der-organspende/, DOI: 10.17176/20190517-144307-0; Rosenau/Knorre, ZfmE 2019, 45; Kluth, ZfL2019, 49; Hufen, in: Lindner, Transplantationsmedizinrecht, 2019, 23;Duttge, ZfL 2019, 29.
[13] So S. Augsberg/Dabrock, FAZ v. 14.10.2019, S. 7: „kollektive Erwartungshaltung hinsichtlich des Zur-Verfügung-Stellens des eigenen Körpers“, „Organabgabeerwartung mit Widerspruchsvorbehalt“.
[14] Bruckmüller, MedR 2022, 809.
[15] Zum grundsätzlichen Problem des „foreign shopping“ deutscher Gesundheitspolitik, das sich etwa auch im Fortpflanzungsmedizinrecht, im Bereich der Forschung mit Embryonen oder – bis zur Nichtigerklärung des § 217 StGB durch das BVerfG – im Bereich der Sterbehilfe zeigt, s. Lindner, Merkur Nr. 852 (5/2020), 91.
[16] BVerfG, NJW 1999, 3403 (Rn. 5): „Soweit die Beschwerdeführer sich gegen die Möglichkeit einer postmortalen Organentnahme auf der Grundlage des § 4 TPG wenden, haben sie die Möglichkeit, einer solchen Organentnahme zu widersprechen (§ 2 Abs. 2 TPG). Gemäß §§ 3 Abs. 2 Nr. 1, 4 Abs. 1 Satz 1 TPG ist die Organentnahme dann in jedem Fall ausgeschlossen. Der Widerspruch kann durch die Zustimmung einer anderen Person nicht überspielt werden. Die Beschwerdeführer haben es somit selbst in der Hand, den befürchteten Grundrechtsverletzungen vorzubeugen. Dass sie in ihren Grundrechten bereits dadurch verletzt werden, dass sie zur Abwehr der behaupteten Grundrechtsverletzung einen Widerspruch erklären müssen, ist nicht ersichtlich.“
[17] Zu diesem Problem bereits Lindner, VerfBlog https://verfassungsblog.de/unwissenheit-schuetzt-vor-spende-nicht/, DOI: 10.17176/20190709-014406-0.
[18] Quelle: FAZ v. 26.10.2019, S. 6.
[19] Anknüpfend an Lindner/Schlögl-Flierl, GesR 2020, 63.
[20] Zu den damit verbundenen Problemen, insbesondere zur möglichen Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG s. S. Augsberg, in: Höfling, TPG-Kommentar, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 47 ff. Die Verfassungswidrigkeit verneinend BVerfG, NJW 1999, S. 3399, wobei es sich allerdings nur um eine Nichtannahmeentscheidung einer Kammer handelt. Zweifelnd Schroth, in: FS f. R. Merkel, 2020, S. 1565. Verfassungswidrigkeit bejahend Fateh-Moghadam, in: Saliger/Tsambikakis, Strafrecht der Medizin, 2022, § 8. Rn. 46 f. m.w.N. zum Diskussionsstand.
[21] Nachweise bei Augsberg (Fn. 20), Rn. 67; Fateh-Moghadam (Fn. 20), § 8. Rn. 44 ff.
[22] Augsburg (Fn. 20), Rn. 66.
[23] Gemeint sind Sachverhalte, bei denen jeweils ein Partner zweier Paare ein Organ, etwa eine Niere, benötigt und der andere bereit ist, ein Organ zu spenden, aber eine inkompatible Blutgruppe hat. Das betroffene Paar sucht dann nach einem anderen in gleicher Situation befindlichen Paar und man tauscht, wenn sich blutgruppenverträgliche Spender-Empfänger-Paare bilden lassen, Nieren über Kreuz aus. Vgl. Rippe, Überkreuzte Lebendspende. Ethische Gesichtspunkte, in: Ethica 23 (2015), 315.
[24] BSG, Urt. v. 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, BSGE 92, 19, GesR 2004, 201.
[25] Augsburg, (Fn. 20) Rn. 66.
[26] Dies betonend auch Schroth, in: FS f. R. Merkel, 2020, S. 1565.
[27] Verfassungsrechtliche Bedenken daher zurecht bei Augsberg (Fn. 20), Rn. 41 ff.
[28] Ablehnend Spilker, ZRP 2014, 112, 114; Krainhöfner, ZRP 2015, 217.
[29] Deutsches Ärzteblatt 116 (2019), Heft 26, S. C 1021.
[30] Angesprochen aber bei Duttge, ZfL 2019, 29 (46): „ …so bestünde ein hochwirksamer – freilich substanziell freiheitsbegrenzender –„nudge“ darin, den Kreis der potenziellen Organempfänger von der reziproken eigenen Bereitschaft zur Organspende abhängig zu machen oder – in der milderen Variante – mit einem „Bonus“ (i.S.e. verkürzten Wartezeit) zu versehen.“
[31] Näher Huber/Lindner, MedR 2019, 849.
[32] Im Grundsatz bejahend Huber/Lindner, MedR 2019, 849.
[33] Auch diesen Fragen einige kursorische Überlegungen bei Huber/Lindner, MedR 2019, 849.
[34] Vgl. aber bereits Bausch/Kohlmann, NJW 2008, 1562; Kühn, Die Motivationslösung, 1998; Neuefeind, Ethik, Recht und Politik der postmortalen Organtransplantation, 2018, 477.
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