1. Wenn ein Rechtsgebiet in der sozialen Mediengesellschaft einen eigenen Blog erhält, ist es angekommen. Es ist disziplinär konsolidiert. Tatsächlich ziert das Gesundheitsrecht mittlerweile die Denomination von Lehrstühlen und Instituten an Hochschulen, es wird in Lehrbüchern behandelt, in universitären Schwerpunktbereichsveranstaltungen und der berufsbezogenen Weiterbildung gelehrt, und eine Fachzeitschrift wird nach ihm benannt. Das ist eine durchaus erstaunliche Karriere, denn noch vor 20 Jahren war der Begriff kaum gebräuchlich. Das Gesundheitsrecht hat sich aus der Abgrenzung zum eher zivil- und strafrechtlich geprägten Medizinrecht entwickelt. In ihm haben sich zwei öffentlich-rechtliche Entwicklungsstränge verbunden, die jeweils bis in das Kaiserreich zurückreichen:
a) Der erste Strang des Gesundheitsrechts besteht aus Gesetzen, die die Abwehr von Gesundheitsgefahren, die gesundheitliche Risikovorsorge und die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung zum Gegenstand haben. Dieser Strang des Gesundheitsrechts wird geprägt durch den Gesetzgebungskompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, der den Bund und unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 1 GG auch die Länder ermächtigt, legislative „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ zu ergreifen. Historische Prototypen dieses Gesundheitspräventionsrechts waren das 1874 erlassene Reichsimpfgesetz und das 1900 in Kraft getretene Reichsseuchengesetz. Auf dieser Rechtsgrundlage beruhen heute so unterschiedliche Gesetze wie das Infektionsschutzgesetz, das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz und das Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz.
Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG berechtigt den Bund zudem zu Regelungen über die „Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe sowie das Recht des Apothekenwesens, der Arzneien, der Medizinprodukte, der Heilmittel, der Betäubungsmittel und der Gifte“. Hier geht es neben der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge auch um berufs- und produktrechtliche Anforderungen an Personen, die sich um die Gesundheit von Menschen und Tieren kümmern, und an Stoffe, die zur Bekämpfung und Bewältigung von Krankheiten eingesetzt werden. Auf dieser Grundlage sind etwa die zulassungsrechtlichen Bestimmungen der Bundesärzteordnung und der heilmittelrechtlichen Fachgesetze (Masseur- und Physiotherapeutengesetz, Podologengesetz, Logopädengesetz, Ergotherapeutengesetz, Diätassistentengesetz) sowie das Medizinproduktegesetz, das Apothekengesetz und das Arzneimittelgesetz erlassen worden. Charakteristisch für alle auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG beruhenden Gesetze sind die Verwaltung durch Staatsbehörden und die gerichtliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte.
b) Der zweite Strang des Gesundheitsrechts sind die überwiegend sozialversicherungsrechtlichen Regelungen, die die Gesundheitsversorgung gewährleisten. Sie stehen im Kontext der sozialen, durch die Industrialisierung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgerufenen gesellschaftlichen Umbrüche. Historischer Ausgangspunkt war das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter aus dem Jahre 1883, das den Anfang der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung markiert. Die Gesetzgebungskompetenz für das sozialversicherungsrechtliche Gesundheitsrecht folgt heute aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG („Sozialversicherung“), auf dessen Grundlage namentlich das Sozialgesetzbuch V erlassen worden ist. Charakteristisch für das sozialrechtliche Gesundheitsrecht ist das Prinzip Selbstverwaltung: Das Sozialgesetzbuch V und die anderen Sozialversicherungszweige (die, wie insbesondere die Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung, ebenfalls gesundheitsrechtliche Regelungen enthalten) werden durch Sozialversicherungsträger durchgeführt, die nach § 29 Abs. 1 SGB IV rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung sind. Der Rechtsweg ist zudem nicht zu den Verwaltungs-, sondern den Sozialgerichten eröffnet (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Anders als es sein Gesetzesuntertitel „Gesetzliche Krankenversicherung“ vermuten lassen könnte, enthält das Sozialgesetzbuch V nicht nur versicherungs- und leistungsrechtliche Bestimmungen, sondern in den §§ 69ff. SGB V auch umfangreiche Regelungen über die Leistungserbringung. Es ist vor allem dieses Leistungserbringungsrecht, das die beiden Stränge des Gesundheitsrechts miteinander verbindet. Auf der einen Seite wird nämlich durch die im Leistungserbringungsrecht wurzelnden Reglungen und Verträge der sozialversicherungsrechtliche Anspruch der Versicherten auf Gesundheitsleistungen konkretisiert, insbesondere durch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§§ 91, 92 SGB V). Auf der anderen Seite setzt das leistungserbringungsrechtliche Zulassungsrecht auf den Bestimmungen des gesundheitsbezogenen Berufs- und Gewerberechts i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG auf, und ergänzt diese durch spezifisch sozialversicherungsrechtliche Anforderungen. So wird beispielsweise nach § 95a Abs. 1 SGB V der approbierte Arzt im berufsrechtlichen Sinne (= Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) erst durch den Nachweis einer fachärztlichen Weiterbildung zum Vertragsarzt im sozialversicherungsrechtlichen Sinne (= Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG), und wird die sozialversicherungsrechtliche Zulassung zur Abgabe von Heilmitteln (Physiotherapie, Podologie, Logopädie, Ergotherapie, Ernährungstherapie) an „die für die Leistungserbringung erforderliche Ausbildung“ (§ 124 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) geknüpft, die in den auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG beruhenden Fachgesetzen geregelt ist. Aber auch das sozialversicherungsrechtliche Leistungsrecht knüpft etwa mit der Unterscheidung zwischen verschreibungs- und nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (vgl. § 34 SGB V) an Kategorisierungen in dem auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG gestützten Arzneimittelgesetz an.
2. Seine disziplinäre Konsolidierung rückt das Gesundheitsrecht in Kontexte anderer Rechtsgebiete. Diese Verbindungen sind nicht nur gesundheitspolitisch relevant, sondern sie bieten auch wichtige Erkenntnisse für die Verortung des Gesundheitsrechts in Forschung und Lehre. Dabei kann man wiederum zwischen den beiden Entwicklungssträngen unterscheiden:
a) Erheblich unterbelichtet ist bislang der Zusammenhang zwischen dem gesundheitsrechtlichen Gefahrenabwehr- und Risikovorsorgerecht auf der einen Seite und dem Klima-, Artenschutz- und Umweltrecht auf der anderen Seite. Das Infektionsschutzrecht steht auf dieser Schnittstelle: Die Erreger von Infektionskrankheiten sind Mikroorganismen, deren Leben durch Umweltbedingungen wie Temperaturen, Feuchtigkeit oder auch hygienische Zustände beeinflusst werden. Klimatische Veränderungen, Massentierhaltung und die zunehmende Vernichtung von Lebensräumen von Wildtieren begünstigen die Übertragung von Erregern, die normalerweise in abgeschlossenen Ökosystemen leben, von Tieren auf Menschen (sog. Zoonosen). Wir müssen davon ausgehen, dass das Corona-Virus nur ein Anfang war, denn in der Tierwelt schlummern noch Tausende bislang unbekannter Viren, die das Potenzial haben, unter veränderten ökologischen Bedingungen die Artengrenze zu überschreiten. Man muss daher nach heutigem Wissensstand davon ausgehen, dass die globalen Klimaveränderungen mit zur Ausbreitung von Pandemien beitragen. Zugleich begünstigen sie Vorerkrankungen, die – wie die durch die erhöhte Feinstaubbelastung ausgelösten Atemwegserkrankungen – eine erhöhte Vulnerabilität in einer Influenza-Pandemie auslösen. Sollten die Schätzungen der EU-Umweltagentur EEA auch nur annähernd realistisch sein, dass allein 2020 240.000 Menschen in der EU vorzeitig an den Folgen der massiven Feinstaubbelastung gestorben sind, sind die (in Deutschland derzeit vollkommen unzureichende) Regulierung der Holzöfen in Privathaushalten und des KFZ-Verkehrs insbesondere in den Ballungsräumen nicht nur umwelt-, sondern auch gesundheitsrechtliche Themen. Gesundheit ist damit nicht nur von sozialen Umfeldbedingungen abhängig (dazu gleich 3. b)), sondern auch von einer gesunden Umwelt. Klima- und Artenschutzrecht sowie das Umweltrecht mit allen seinen Untergliederungen sind daher stets auch Gesundheitsrecht. Auch die rechtsdogmatischen Fragestellungen wie die schwierige Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge entsprechen einander. Diese Kontexte sprechen dafür, die Gesundheitspolitik ganzheitlicher im Sinne „öffentlicher Gesundheit“ zu denken. Ein solcher umwelt- und bevölkerungsbezogener Public Health-Ansatz hat zwar in Deutschland auch wegen der historisch verpönten „Volksgesundheit“ keine Tradition, wird aber zum zentralen Baustein einer präventiven Gesundheitspolitik werden müssen.
b) Das Gesundheitsrecht ist zudem, soweit es das öffentliche Gesundheitswesen (also den zweiten Entwicklungsstrang) zum Gegenstand hat, Sozialrecht. Das im Sozialgesetzbuch V geregelte Krankenversicherungsrecht mit seinen Bestimmungen zum versicherten Personenkreis und zu den Leistungsansprüchen der Versicherten bildet die sozialstaatliche Basis des Gesundheitsrechts. Das ist an sich eine triviale Erkenntnis, die aber unter den Bedingungen eines durch ökonomische Effizienzanforderungen, Gewinninteressen und Standesdenken geprägten Gesundheitswesens mitunter etwas in den Hintergrund tritt. Reduktionistische begriffliche Neuschöpfungen wie „Gesundheitswirtschaftsrecht“ sind das Resultat dieser Entfremdung vom sozialstaatlichen Grund des öffentlichen Gesundheitswesens. Auch für Forschung, Lehre und Rechtspraxis gilt, dass man Gesundheitsrecht ohne solide sozialrechtliche Kenntnisse nicht seriös betreiben kann.
Diese Basis des Gesundheitsrechts im Sozialrecht eröffnet einen weiten Horizont für Verknüpfungen mit Pflichtfächern im rechtswissenschaftlichen Studium. Ebenso wie das Kollektivarbeitsrecht ist das Gesundheitsrecht und überhaupt das Sozialrecht geprägt durch staatsferne korporatistische Aushandlungsprozesse, die neben vielen anderen Verbindungslinien die traditionelle disziplinäre Verknüpfung zwischen Arbeits- und Sozialrecht erklären. Besonders wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass das sozialrechtliche Gesundheitsrecht ein verwaltungsrechtliches Referenzgebiet ist. Das Studium des Verwaltungsrechts ist in der rechtswissenschaftlichen Pflichtfachausbildung nach wie vor weitgehend auf die Eingriffsverwaltung beschränkt. Der verwaltungsrechtliche Fächerkanon ist damit letztlich bei Otto Mayer und Ernst Forsthoff stehen geblieben: Studierende lernen Staat und Verwaltung primär als Akteure kennen, die in Freiheitsrechte eingreifen und sich dafür rechtfertigen müssen. Das vermittelt ein sehr einseitiges Bild auf Staat und Verwaltung, die den Studierenden vor allem als Gegner und weniger als Garanten von Freiheit präsentiert werden. Dadurch bleibt etwa die Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages ein blinder Fleck für alle, die sich nicht für einen Schwerpunkt im Sozialrecht entscheiden. Der öffentlich-rechtliche Vertrag prägt namentlich das Gesundheitsrecht, hat aber im Bereich der Eingriffsverwaltung kaum praktische Bedeutung. Weil das sozialrechtliche Gesundheitsrecht auch Planungsrecht (vgl. insbes. §§ 99ff. SGB V) ist, gibt es ferner interessante Verbindungslinien zum öffentlichen Baurecht, und weil es durch Selbstverwaltung geprägt ist, können immer wieder Parallelen zum Kommunalrecht gezogen werden. Und last but not least: Die Verwaltungskompetenzen (Art. 83ff. GG), die viele Studierende zu Unrecht als Tiefpunkt der staatsorganisationsrechtlichen Vorlesung ansehen, kann man im sozialrechtlichen Gesundheitsrecht zum Leben erwecken. Immerhin dürfte das Sozialgesetzbuch V das einzige Bundesgesetz sein, dessen Einzelbestimmungen zugleich durch Landes- als auch durch Bundesbehörden ausgeführt werden (vgl. Art. 87 Abs. 2 GG).
3. Diese Kontexte vermitteln bereits einen Vorgeschmack auf die vielen Konflikte, die das Gesundheitsrecht bewältigen und regulieren muss. Sie können in diesem Rahmen nur stichwortartig und wiederum getrennt nach den beiden Entwicklungssträngen des Gesundheitsrechts angerissen werden.
a) Es spricht zwar alles dafür, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung stärker als bislang in das Gesundheitsrecht zu integrieren und dieses insoweit auch mit den Teilmaterien des Umweltrechts zu verknüpfen. Prävention und Förderung bedingen allerdings auch, dass die individuelle Lebensführung und die unterschiedlichen sozialen Lebenswelten stärker in den Fokus rücken. Daraus erwachsen durchaus handfeste Konflikte mit den Freiheitsrechten, die in erster Linie jeden Einzelnen selbst in der Verantwortung für seine individuelle Gesundheit sehen und insoweit auch individuell unvernünftiges Verhalten schützen. Aus der Pandemie und den Debatten über klimaschädliches Verhalten können wir die Erkenntnis mitnehmen, dass Menschen besonders allergisch darauf reagieren, wenn ihnen im belehrenden Duktus „Wir sind die Guten, und wir wissen, was gut für Euch ist“ Vorgaben für das vermeintlich richtige Leben gemacht werden – natürlich auch, weil sie insgeheim wissen, dass diese Vorgaben einen richtigen Kern haben. Ein paternalistischer Gesundheitspräventionsstaat, wie ihn Juli Zeh in Ihrem „Corpus Delicti“ prägnant überzeichnet, ist jedenfalls kein wirklich weiterführendes Label für Public Health-Ansätze. Hingegen sind gute Gesundheitskommunikation und intelligente Anreizinstrumente wichtige Bausteine einer gelingenden öffentlichen Gesundheit.
b) Auch das sozialrechtliche Gesundheitsrecht steht vor enormen Herausforderungen, wobei stets zu betonen ist, dass der Fokus auf die großen Konflikte nicht den Blick darauf verstellen darf, dass das sozialstaatliche Krankenversicherungssystem einen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlicher Stabilisierung und sozialem Ausgleich leistet. Dass seine Grundstrukturen ungeachtet unzähliger und praktisch täglicher Änderungen seit Jahrzehnten konstant geblieben sind, hängt eben auch mit seiner Leistungsfähigkeit und der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz zusammen.
In diesem Sinne ist das Prinzip Selbstverwaltung zwar grundsätzlich ein Erfolgsfaktor des sozialrechtlichen Gesundheitsrechts. Aber es begünstigt auch diverse Fehlentwicklungen wie die dysfunktionale Trennung zwischen einer ambulanten Krankenversorgung durch Vertragsärzte und der (grundsätzlich) stationären Krankenhausbehandlung. Für beide Versorgungszweige gelten unterschiedliche Zulassungs-, Planungs- und Vergütungsregime, an deren Aufrechterhaltung die zuständigen Verbände ein institutionelles Eigeninteresse haben, das ganz offensichtlich mit dem einheitlichen Versorgungsinteresse der Versicherten kollidiert, denen es egal ist, zu welchem Sektor die Einrichtung gehört, die sie behandelt. Die Einkesselung in Sektoren verhindert die notwendige Versorgung mit ärztlichen und pflegerischen Leistungen aus einer Hand, denn für sie ist niemand allein zuständig. Institutionelle Eigeninteressen haben ferner einen Beitrag dazu geleistet, dass es auch nach über 20 Jahren seit den ersten Initiativen immer noch keine leistungsfähige elektronische Patientenakte gibt und dass Abrechnungs- und Versorgungsdaten nach wie vor nur unter bürokratischem Aufwand für die Gesundheitsforschung genutzt werden können. Und schließlich wirft die fragile demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses (§§ 91, 92 SGB V) die Frage auf, ob die Konkretisierung des Leistungskatalogs tatsächlich eine Angelegenheit der (ärztlich geprägten) Selbstverwaltung sein kann.
Jenseits der spezifischen Herausforderungen des historisch gewachsenen Prinzips der Selbstverwaltung ist das sozialrechtliche Gesundheitsrecht durch weitere gesellschaftliche Kardinalkonflikte geprägt. Wegen seiner Wurzeln in der Bismarck’schen Arbeiterversicherung gibt es in Deutschland keine allgemeine Einwohnerversicherung. Die Aufteilung in die gesetzliche Krankenversicherung, in der knapp 90% der Bevölkerung versichert ist, und eine kleine private Krankenversicherung, in der vorwiegend Selbständige, Beamte und gut verdienende Angestellte versichert sind, ist Bestandteil der Spaltungen, die auch die deutsche Gesellschaft zunehmend prägen. Sie verstärkt den ohnehin schon negativen Effekt, den der soziale Status auf Gesundheitschancen hat. Armut macht krank. Der krankenversicherungsrechtliche Dualismus ist aber nicht nur sozial-, sondern auch versorgungspolitisch fragwürdig, denn er begünstigt die Entstehung von Einrichtungen, die faktisch fast nur Privatversicherten zugänglich sind (etwa die sog. „Privatkliniken“) und erzeugt aufgrund der unterschiedlichen Vergütungen falsche Anreize; es kommt nicht von Ungefähr, dass sich Ärzt:innen lieber in Gebieten mit einer hohen Privatversichertendichte niederlassen statt in den vorwiegend ländlichen Gebieten, in denen sie dringender gebraucht würden. Die duale Krankenversicherungsordnung wird auch durch die Standesinteressen der insbesondere in den Ministerien stark vertretenen Beamt:innenschaft, die gemeinsam mit ihren Angehörigen fast die Hälfte der Privatversicherten ausmacht, am Leben gehalten. Dabei stellt sie mit der sozialen Zugangs- und Teilhabegerechtigkeit ein wesentliches Anliegen eines sozialstaatlichen Gesundheitssystems in Frage.
Schließlich wird die gesetzliche Krankenversicherung auch mit der Frage der Generationengerechtigkeit konfrontiert. Die enorme Herausforderung zeigt sich deutlich in der Krankenversicherung für Rentner:innen, die mittlerweile ein Drittel aller Versicherten ausmachen. Auf der einen Seite bemessen sich ihre Beiträge nach den Renten, die wesentlich geringer ausfallen als die zuvor erzielten Arbeitseinkommen. Auf der anderen Seite erzeugen sie wesentlich mehr Kosten, insbesondere in den letzten Lebensjahren. Die demografische Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren noch weiter zuspitzen: immer weniger Kinder, aber immer mehr Alte. Sie müsste eigentlich zu einer Anpassung der Finanzierungsmechanismen führen, etwa durch die Berücksichtigung der Kindererziehung im Beitragsrecht wie sie das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Pflegeversicherung gefordert, in der Krankenversicherung aber unverständlicherweise abgelehnt hat. Der allgemeine Befund ist in den mit der Thematik befassten Fachwissenschaften an sich nicht mehr umstritten, wird aber – insoweit vergleichbar mit dem Klimaschutz – seit Jahrzehnten von einer Legislaturperiode in die nächste geschoben.
4. Kongratulation, lieber Stefan und Team zu dem Projekt des Gesundheitsrecht.blog! Möge er ein inspirierendes Forum für den intra- und interdisziplinären Austausch sowie die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis werden. Glückauf!
DOI: 10.13154/294-9540
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