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Auf dem Nikolaus-Schlitten in die Verfassungswidrigkeit? Verfassungsrechtliche Einwände gegen ein neues Urteil des BSG


  • Prof. Dr. Stefan Huster

    Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie und Direktor des ISGR.

  • Lara Wiese

    Die Autorin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht (ISGR) an der Ruhr-Universität Bochum.

Abstract: Ein neueres Urteil des Bundessozialgerichts wirkt auf den ersten Blick vergleichsweise unscheinbar, wirft bei näherem Hinsehen aber ein Schlaglicht auf die Defizite der „Nikolaus-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts und des § 2 Abs. 1a SGB V als der sie kodifizierenden Leistungsnorm. Die besondere Sachverhaltskonstellation hat zu der paradoxen Situation geführt, dass gerade die strikte Anwendung höchstrichterlich – und insbesondere auch verfassungsgerichtlich – ausgeformter Grundsätze und Kriterien nicht mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, und zeigt paradigmatisch auf, was passiert, wenn vermeintlichen Prinzipien gegenüber sachgerechten Ergebnissen der Vorzug gewährt wird.

A.           Sachverhalt

Bei einer gesetzlich krankenversicherten Frau wurde während ihrer Schwangerschaft eine Infektion mit dem sogenannten Zytomegalievirus (CMV) festgestellt, die für sie selbst ungefährlich war, aber für das ungeborene Kind eine erhebliche Gefahr darstellte. Das Risiko, dass es sich infizieren und infolgedessen versterben oder schwere und irreversible Schädigungen (z.B. eine Intelligenzminderung, Taub- oder Blindheit) erleiden würde, lag bei 16%.[1] Die einzige medizinische Handlungsmöglichkeit in dieser Konstellation ist die präventive Behandlung der Schwangeren mit einem Arzneimittel (Cytotect), das für diesen Zweck keine Zulassung hat, aber regelmäßig zu diesem angewendet wird, da vieles darauf hindeutet, dass es das Risiko einer Virusübertragung höchstwahrscheinlich reduzieren kann.[2]

Ein entsprechender Antrag der Versicherten an ihre Krankenkasse auf die Versorgung mit Cytotect ist allerdings abgelehnt worden mit der Folge, dass sie sich die Leistung selbst beschaffte und anschließend einen Anspruch aus Kostenerstattung (in Höhe von knapp 9.000 €) geltend machte.[3]

B.            Instanzenzug und Entscheidung

Nachdem die Klägerin in der ersten Instanz vor dem SG München Recht bekam,[4] verneinten sowohl das Bayerische Landessozialgericht[5] als auch das Bundessozialgericht[6] einen Anspruch.

Dies ist angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Behandlung von schwangeren CMV-Infizierten mit Cytotect um eine etablierte Vorgehensweise handelt und die Krankenkassen bislang auch regelmäßig für die Kosten aufgekommen sind bzw. im Zweifel von den Gerichten dazu verurteilt wurden[7], durchaus bemerkenswert.

C.           Entscheidungsgründe

Ein Kostenerstattungsanspruch konnte sich hier allein aus § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V i. V. m. einem verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch bzw. dem korrespondierenden einfachgesetzlichen Leistungsanspruch (§ 2 Abs. 1a SGB V) ergeben.

Diese Leistungsansprüche stehen im Zusammenhang mit dem sogenannten „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, nach dem gesetzlich krankenversicherten Personen Leistungen gewährt werden müssen, selbst wenn das einfache Recht diese nicht vorsieht, sofern drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Es muss sich (1) um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung handeln, für die (2) eine allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und (3) die vom Versicherten gewählte, ärztlich angewandte Behandlungsmethode muss mit einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf Heilung verbunden sein oder zumindest eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf erwarten lassen.[8]

Sowohl das bayerische Landessozialgericht als auch das Bundessozialgericht ließen die 16%ige Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind verstirbt oder schwer geschädigt wird, allerdings nicht für einen Anspruch genügen. Dabei hat das Bundessozialgericht insbesondere darauf abgestellt, dass das ungeborene Kind mit „überwiegender“ Wahrscheinlichkeit nicht versterben bzw. keinen schweren Schaden erleiden würde.[9] Angesichts dessen sah es die strengen Anforderungen, die im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Bundessozialgerichts als Voraussetzung für die Gewähr eines zulassungsüberschreitend angewendeten Arzneimittels zulasten der Solidargemeinschaft aufgestellt wurden, als nicht erfüllt an.

D.           Kritik

Die Entscheidung sowie die dazugehörige Begründung des Bundessozialgerichts werfen Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit auf. Wenngleich ein verfassungsunmittelbarer Anspruch, der nach dem Bundesverfassungsgericht eine notstandsähnliche Situation mit einem akuten Behandlungsbedarf zur Lebenserhaltung[10] bzw. eine zeitlich nahe Todesgefahr[11] voraussetzt, möglicherweise nicht eindeutig bestand, hätte eine grundrechtsorientierte verfassungskonforme Auslegung von § 2 Abs. 1a SGB V zu einem einfachgesetzlichen Leistungsanspruch führen müssen.

I.              Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Leistungsrechts

Die Wertungen und Vorgaben der Verfassung müssen bei der Auslegung der einfachgesetzlichen Normen des Leistungsrechts beachtet werden. Insbesondere die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, 28 Abs. 1 S. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) vermitteln einen über den verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch hinausgehenden Grundrechtsschutz[12] und bedingen die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung der leistungskonkretisierenden Normen des SGB V[13].

II.           Verfassungswidrige Auslegung durch das Bundessozialgericht

Vorliegend hat das Bundessozialgericht diese Vorgaben nicht hinreichend berücksichtigt.

1.             Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit enthält einen Schutzauftrag des Staates für diese Rechtsgüter,[14] der auch gegenüber dem ungeborenen Leben besteht[15]. Vor diesem Hintergrund muss stets hinterfragt werden, ob etwaige Leistungsausschlüsse in der Gesetzlichen Krankenversicherung mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerechtfertigt sind.[16]

a)             Das Erfordernis einer „überwiegenden“ Wahrscheinlichkeit

Bereits das vom Bundessozialgericht zugrunde gelegte Erfordernis einer „überwiegenden“ Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Todes oder schwerer Schäden und die dadurch implementierte „Mindest-Todeswahrscheinlichkeit“ bzw. „Mindest-Schädigungswahrscheinlichkeit“ von mehr als 50% als konstitutive und starre Anspruchsvoraussetzung stellen einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar.

Diese Auslegung findet weder im Normtext selbst noch in der Rechtsprechung oder der Gesetzesbegründung eine Stütze. Letzterer kann lediglich entnommen werden, dass der Eintritt des Todes oder einer gleichgestellten schweren Folge „wahrscheinlich“ sein muss.[17] Selbst die nach ständiger Rechtsprechung vorausgesetzte „hohe“ Wahrscheinlichkeit[18] ist eine bloße Interpretation – und dementsprechend eine „überwiegende“ Wahrscheinlichkeit eine Überinterpretation, die sich mit Blick auf die ohnehin strengen Anspruchsvoraussetzungen und die in Rede stehende Rechtsgutgefährdung als bedenklich erweist.

Dabei bleibt im konkreten Fall zu bedenken, dass ein 16%iges Risiko in Rede stand, welches beinahe demjenigen entspricht, beim „Russisch Roulette“ einen Schuss zu lösen und zu versterben oder eine schwere Verletzung davon zu tragen. Von einer Teilnahme daran ist zweifellos abzuraten, obwohl der Tod auch in dieser Konstellation kein „überwiegend wahrscheinliches“ Szenario darstellt.

b)            Keine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls

Die Zugrundelegung der hohen und starren Wahrscheinlichkeitsgrenze hatte zur Folge, dass sich das Bundessozialgericht nicht mehr mit den Umständen des Einzelfalls befasst hat.

Allerdings ist es unabdingbar, das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen (z.B. eine Lebensbedrohlichkeit) mit Blick auf die konkreten Gegebenheiten zu beurteilen. Denn eine verhältnismäßige und insofern aus grundrechtlicher Sicht gebotene Leistungsallokation erfordert eine Überprüfung dahingehend, ob die hinter den leistungslimitierenden Regelungen stehenden Schutzgedanken – also insbesondere zu verhindern, dass schädliche oder unwirksame Arzneimittel zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung gewährt werden und diese finanziell überfordert wird – es im individuellen Fall rechtfertigen, einen Anspruch zu versagen. In diesem Zusammenhang müssen vor allem die Wirksamkeit und Verträglichkeit des begehrten Arzneimittels in den Blick genommen werden, ebenso die bestehenden Alternativen und die Kosten.

Die Verabreichung von Cytotect an Schwangere ist eine regelmäßig empfohlene und alternativlose Behandlungsmethode, um die Wahrscheinlichkeit einer potenziell tödlichen CMV-Infektion des Fötus zu verhindern,[19] und lässt dabei keine Nebenwirkungen oder Gefahren erwarten.[20] Die mit der Behandlung einhergehenden Kosten sind zudem vergleichsweise gering.[21] Aufgrund dessen erscheint es weder nachvollziehbar noch mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar, dass der Anspruch abgelehnt wurde. Dieses Grundrecht und auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebieten es, eine umso geringere Todes- und Schädigungswahrscheinlichkeit für einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V genügen zu lassen, je risikoärmer und kostengünstiger die begehrte Arznei ist. Erstaunlicherweise werden diese Zusammenhänge vom Bundessozialgericht nicht einmal angesprochen.

2.             Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts, einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V nicht anzuerkennen, verstößt ferner gegen Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG, 28 Abs. 1 S. 1 GG).

Im Rahmen des Nikolaus-Beschlusses hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass es mit diesem Prinzip nicht vereinbar ist, den Einzelnen einer Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und ihm die notwendige Krankenbehandlung gesetzlich zuzusagen, aber ihn gleichzeitig auf eine privat finanzierte Behandlung zu verweisen, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die es keine schulmedizinische Behandlungsmethode gibt.[22] Angesichts der Gefährdung des Fötus und der bestehenden Behandlungsmöglichkeit hätte sich die Solidargemeinschaft ihrer Einstandspflicht nicht entziehen dürfen.

Besonders problematisch ist es, dass vorliegend eine Behandlung in Rede steht, die sich zwar nicht jeder leisten kann, die die Versicherten aber gleichzeitig regelmäßig notfalls privat finanzieren werden, wie es auch die Klägerin getan hat. Übernimmt die Solidargemeinschaft die Kosten nicht, droht eine soziale Spaltung des Versorgungszugangs und damit eine „Zwei-Klassen-Medizin“. Dies ist in einem Sozialstaat nicht vertretbar: Hier darf der Zugang zu potenziell lebensrettenden Maßnahmen, die standardmäßig in Anspruch genommen werden, nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit abhängen.

3.             Verfassungsverstöße durch fehlende gesonderte Berücksichtigung der Schwangerschaft

Zu guter Letzt hat das Bundessozialgericht Verfassungsrecht verletzt, indem es die Situation, dass eine Schwangere und damit auch ungeborenes Leben involviert waren, nicht gesondert berücksichtigt hat. Denn nachdem es auf seine eigene frühere Rechtsprechung sowie auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage nach einer Lebensbedrohlichkeit oder regelmäßigen Tödlichkeit verwiesen hatte, die ausnahmslos in Konstellationen mit geborenen und größtenteils erwachsenen Personen ergangen sind, statuierte es, dass die darin verfestigten (strengen) Maßstäbe bei Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen „auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens“ gelten würden.[23]

a)             Besondere Schutzpflicht gegenüber ungeborenem Leben

In diesem Zusammenhang ist zunächst zu konstatieren, dass das Bundessozialgericht die besondere Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben und die Bedeutung der Geburt verkannt hat.

Ein möglichst gesunder und ungeschädigter Start ins Leben ist im wahrsten Sinne des Wortes von existenzieller Bedeutung und sollte dementsprechend durch den Staat geschützt werden: Schließlich markiert die Geburt den Zeitpunkt der Entfaltung des Menschseins im engeren Sinne und vor allem auch den unstreitigen Beginn der Grundrechtsträgerschaft. Das Leben ist „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“[24]. Wenngleich der Schutz des ungeborenen Lebens zwar keinen höheren Stellenwert als der Schutz des geborenen Lebens hat, erscheint es angezeigt, den Grundsatz „in dubio pro vita“ im pränatalen Bereich besonders zu beherzigen.

b)            Einstrahlung von Grundrechten und grundrechtlich geschützten Interessen der Schwangeren

Das Bundessozialgericht hat zudem nicht bedacht, dass mit dem Interesse des ungeborenen Kindes an Leben und Gesundheit das Interesse seiner Mutter an selbigem korreliert. Die verfassungsrechtlich geschützten Interessen und Rechte beider treten – anders als beim Schwangerschaftsabbruch – also nicht in einen Konflikt miteinander, sondern sie haben die gleiche Wirkrichtung und verstärken sich gegenseitig. Im Einklang damit besteht die Verpflichtung des Staates zum Schutz des sich entwickelnden Lebens nicht nur gegenüber diesem selbst, sondern grundsätzlich auch gegenüber der Mutter.[25]

aa)         Art. 6 Abs. 4 GG

Eine (werdende) Mutter hat zudem einen eigenen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG). Zu dieser Gemeinschaft gehört auch die als Solidargemeinschaft konzipierte Gesetzliche Krankenversicherung.

Der sachliche Schutzbereich von Art. 6 Abs. 4 GG bezieht sich insbesondere auch auf psychische Belastungen infolge bzw. im Zusammenhang mit der Schwangerschaft und Mutterschaft,[26] also auch auf die Sorge um das Wohlergehen (ungeborener) Kinder. Das Bundessozialgericht hat zwar die „belastende Situation“ der Klägerin erkannt,[27] aber nicht mit Art. 6 Abs. 4 GG in Verbindung gebracht und nicht als eigenständigen verfassungsrechtlichen Umstand erkannt. Die Sorgen und Ängste der Klägerin, ihr Kind ungewollt mit CMV zu infizieren, hätten durch die Gewährung der von ihr begehrten und durchaus erfolgversprechenden Behandlung voraussichtlich gemindert werden können. Dies wäre im Übrigen auch dem Fötus zugutegekommen, da pränataler Stress erwiesenermaßen schädlich für die Entwicklung des Kindes ist[28].

bb)        Art. 6 Abs. 1 GG

Nicht nur den besonderen Schutzauftrag gegenüber der werdenden Mutter missachtete das Bundessozialgericht, sondern auch den besonderen Schutzauftrag gegenüber der Familie. Diese wird ausweislich Art. 6 Abs. 1 GG dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung unterstellt.

Die Geburt eines Kindes begründet regelmäßig die Entstehung einer Familie im Sinne des Grundgesetzes.[29] Dementsprechend ergibt sich der staatliche Schutzauftrag für ungeborenes Leben auch nicht allein aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, sondern insbesondere auch aus Art. 6 Abs. 1 GG, was vom Bundessozialgericht vollständig übersehen wurde.

c)             Gleichheitswidrige Normauslegung

Die strikte Anwendung der zwar tradierten, gleichwohl aber in Konstellationen mit geborenen (und größtenteils erwachsenen Menschen) entwickelten Grundsätze und Kriterien auch in der Situation, dass eine Schwangere und ihr ungeborenes Kind betroffen sind, verletzt überdies auch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).

Dieser verbietet es aller staatlichen Gewalt (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) – und damit auch dem Bundessozialgericht als Teil der Judikative – nicht nur, „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich“, sondern auch, „wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ zu behandeln.[30]

aa)         Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem

Maßgeblich im Zusammenhang mit einer Gleichbehandlung ist es, ob die tatsächlich bestehenden Ungleichheiten für eine Betrachtungsweise, die am Gerechtigkeitsgedanken orientiert ist, in dem jeweiligen Zusammenhang so bedeutsam sind, dass sie beachtet werden müssen.[31]

Ein bedeutsamer Umstand in diesem Sinne ist es, dass im Bereich der Arzneimitteltherapie von Schwangeren (und damit auch Ungeborenen) ein Mangel an Evidenz besteht, und für diese Personengruppe kaum Arzneimittel zugelassen sind. Vielfach fehlen Daten, weil Schwangere regelmäßig von klinischen Studien ausgeschlossen sind.[32]

Während die Behandlung mit zugelassenen Arzneimitteln bei geborenen Personen die Regel darstellt, ist sie bei Schwangeren gerade die Ausnahme[33]. In der Folge werden Schwangere (bzw. Ungeborene) viel häufiger auf ein nicht zugelassenes Arzneimittel angewiesen sein, dementsprechend ihren Versorgungsanspruch viel häufiger an den engen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V messen lassen müssen, und dementsprechend prozentual betrachtet auch viel häufiger an diesen scheitern, mit der Folge, dass sie eine potenziell lebensrettende Maßnahme allenfalls als privat finanzierte Leistung erhalten können. Mit Blick auf die betroffenen Ungeborenen kann insoweit von einer mittelbaren (Alters-)Diskriminierung gesprochen werden.

bb)        Verfassungswidrigkeit

Als Rechtfertigung dafür, dass trotz der soeben geschilderten Unterschiede bei Ungeborenen bzw. Schwangeren der übliche Maßstab unmodifiziert Anwendung finden soll, kann ein pauschaler Verweis darauf, dass die Ausweitung von nicht zugelassenen und damit möglicherweise hinter den erforderlichen Anforderungen an Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zurückstehenden Arzneimitteln gering zu halten ist,[34] nicht ausreichen.

Das Bundessozialgericht hätte die besondere Situation in der Arzneimittelversorgung für Ungeborene und Schwangere nicht völlig unberücksichtigt lassen dürfen, sondern diese bei der Interpretation des § 2 Abs. 1a SGB V miteinbeziehen müssen. Allerdings hat es weder eine entsprechende Notwendigkeit noch die Einschlägigkeit des Art. 3 Abs. 1 GG erkannt.

III.        Ergebnis

Eine verfassungskonforme Auslegung von § 2 Abs. 1a SGB V hätte zu einem Anspruch der Klägerin auf die Versorgung mit Cytotect führen müssen.

E.            Fazit und Ausblick

Dem Bundessozialgericht ist vorzuwerfen, dass es den geschilderten Fall als eine weitere „Nikolaus-Konstellation“ beurteilt hat, ohne zu erkennen, dass dies wegen der Schwangerschaft der Klägerin und dem Ziel der begehrten Behandlungsmaßnahme – dem Schutz eines ungeborenen Kindes – gerade nicht der Fall war. Neben Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 S.1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip sind weitere Grundrechte und grundrechtlich geschützte Interessen involviert, etwa aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG, die vollständig übergangen wurden.

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die starre Anwendung von Kriterien, die durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt und regelmäßig von dieser bestätigt wurden, keine Garantie für ein angemessenes Ergebnis ist. Im vorliegenden Fall hat sie dazu geführt, dass eine risikoarme, ärztlicherseits empfohlene und kostengünstige Behandlungsmethode, die aller Wahrscheinlichkeit dazu in der Lage ist, das Risiko des Todes oder lebenslangen Leidens zu reduzieren, nicht gewährt wurde. Die mit den angelegten Kriterien einer Lebensbedrohlichkeit oder dem regelmäßig tödlichen Verlauf beabsichtigte Filterwirkung ist schlichtweg zu grob, sofern keine Differenzierungen in Abhängigkeit von den konkreten Umständen, insbesondere den Kosten und Risiken erfolgen. Daher sind die Nikolaus-Rechtsprechung und ihre Kodifikation nicht überzeugend, wenn keine einzelfallbezogene und verhältnismäßige Leistungsallokation vorgenommen werden kann, sondern stets und ungeachtet der konkreten Umstände gleichermaßen hohe wie starre Voraussetzungen für die Versorgung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln gelten.

Es liegt insoweit vor allem an den Gerichten, sich die hinter den Leistungsbeschränkungen stehenden Gründe zu vergegenwärtigen und gewissenhaft zu prüfen, ob eine Ablehnung des Versorgungsanspruchs tatsächlich verhältnismäßig ist – insbesondere auch angesichts der Grundrechte und grundrechtlich geschützten Interessen der Versicherten, die ihn begehren. Das Bundessozialgericht jedenfalls hat sich dieser Aufgabe entzogen und ist auf dem Nikolaus-Schlitten in die Verfassungswidrigkeit gesaust. Daher bleibt es mit Spannung abzuwarten, ob das im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufene Bundesverfassungsgericht diese Irrfahrt bremst und auf die Notwendigkeit einer einzelfallbezogenen, grundrechtssensiblen und verhältnismäßigen Auslegung des Leistungsrechts hinweist, der es gerade im Anwendungsbereich von § 2 Abs. 1a SGB V bedarf.

DOI: 10.13154/294-9855

ISSN: 2940-3170

Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung eines Gutachtens, das eine Verfassungsbeschwerde unterstützt. Eine ausführlichere Version wird in der Vierteljahresschrift für Sozial- und Arbeitsrecht (VSSAR, Heft 3/2023) erscheinen.

[1] BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 45; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. November 2021 – L 4 KR 318/18 –, juris, Rn. 73 ff.

[2] Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. November 2021 – L 4 KR 318/18 –, juris, Rn. 5, 8, 21.

[3] BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 2.

[4] SG München, Urteil vom 21. März 2018, S 7 KR 1723/15.

[5] Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. November 2021 – L 4 KR 318/18.

[6] BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R.

[7] Vgl. nur SG Düsseldorf, Urteil vom 07. Mai 2015 – S 27 KR 734/13; SG Düsseldorf, Urteil vom 28. Dezember 2016 – S 47 KR 708/13; SG Osnabrück, Urteil vom 11. Februar 2019 – S 46 KR 83/18; SG Münster, Urteil vom 09. April 2019 – S 21 KR 80/14; SG Wiesbaden, Urteil vom 20. Mai 2020, – S 17 KR 93/17; SG Berlin, Urteil vom 18. September 2020 – S 223 KR 1250/19; SG München, Urteil vom 05. Mai 2021 – S 55 KR 1998/19; SG Berlin, Urteil vom 01. Juni 2021 – S 31 KR 1133/18. 

[8] BVerfGE 115, 25, 49.

[9] BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 37.

[10] BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 –, juris, Rn. 22.

[11] BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 –, juris, Rn. 22; BVerfGE 140, 229, 234.

[12] BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 –, juris, Rn. 23; BVerfGE 140, 229, 237.

[13] Vgl. BVerfGE 115, 25, 45; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. August 1998, NJW 1999, 857 f.; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 2415/13 –, juris, Rn. 11.

[14] BVerfGE 39, 1, 20 ff., dazu auch Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, 1 ff.; vgl. ferner Krüper, in: Dreier, GG, Bd. I, 4. Auflage 2023, Art. 2 Rn. 80: „Kern der Schutzpflichtendogmatik“.

[15] Vgl. BVerfGE 39, 1, 42; 88, 203, 251.

[16] Vgl. BVerfGE 115, 25, 43.

[17] BT-Drucks. 17/6906 – B.- zu Art. 1 Nr. 1, S. 53.

[18] Vgl. nurBVerfG, Urteil vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr. 8 Rn. 25; BSG, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R – SozR 4-2500 § 2 Nr. 12 Rn. 21 m. w. N.; BSG, Urteil vom 19. März 2020 – B 1 KR 20/19 R – BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, Rn. 25; BSG, Urteil vom 19. März 2020 – B 1 KR 22/18 R – juris, Rn. 21 ff.; BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 6/21 R – SozR 4-2500 § 13 Nr. 56 Rn. 33.

[19] Nachweise dazu bereits bei Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. November 2021 – L 4 KR 318/18 –, juris, Rn. 5, 8, 21.

[20] Die langen klinischen Erfahrungen mit dem Wirkstoff Immunglobulin lassen darauf rückschließen, dass keine schädlichen Auswirkungen auf den Verlauf der Schwangerschaft, den Fötus oder das Neugeborene zu erwarten sind, s. Fachinformation Cytotect CP Biotest 100 E/ml Infusionslösung, Punkt 4.6.

[21] Insbesondere etwa im Vergleich mit 831.825,68 € bei BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17.

[22] BVerfGE 115, 25, 49.

[23] BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 30.

[24] BVerfGE 39, 1, 42.

[25] BVerfGE 39, 1, 42 u. 48.

[26] Vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6, Rn. 216; Seiler, in: BK, 213. Aktualisierung September 2021, Art. 6 Abs. 4, Rn. 55; Schmidt, ErfK, GG, 23. Aufl. 2023, Art. 6 Rn. 18.

[27] S. BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 43.

[28] Dazu etwa Wu et al., Association of Elevated Maternal Psychological Distress, Altered Fetal Brain, and Offspring Cognitive and Social-Emotional Outcomes at 18 Months, JAMA Network Open (2022). DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2022.9244; Schwab/Witte, Prenatal stress and brain disorders in later life, Neuroscience & Biobehavioral Reviews, Volume 117, October 2020, https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2020.06.002.; Rakers, Der Einfluss von chronischem Stress während der Schwangerschaft auf die funktionelle Reifung des fetalen zentralen Nervensystems, 2011, abrufbar unter https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00018233 (letzter Zugriff: 17. April 2023), S. 2 ff.

[29] Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 100; Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 I Rn. 66.

[30] Seit BVerfGE 4, 144, 155 st. Rspr.; s. auch BVerfGE 112, 164, 174; 98, 365, 385.

[31] BVerfGE 1, 264; 98, 365, 385; 110, 141, 167.

[32] Ausführlich zu den (rechtlichen) Problemen Knop, Klinische Prüfungen mit Arzneimitteln in der Schwangerschaft, 2015.

[33] Knop, Klinische Prüfungen mit Arzneimitteln in der Schwangerschaft, 2015, S. 86.

[34] Vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R –, juris, Rn. 42.

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