Immer aktuell: Mit unserem Newsletter neue Beiträge per Mail erhalten.

Leistungsansprüche nicht-binärer Personen gegen die GKV: Unter welchen Voraussetzungen besteht ein Anspruch auf die Durchführung geschlechtsangleichender Operationen?


  • Kristina Grohs

    Die Autorin ist seit Anfang 2023 als Rechtsanwältin bei der Rechtsanwaltskanzlei SOH tätig und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum am Lehrstuhl von Herrn Prof. Huster.

Abstract: Die Frage, welche Leistungsansprüche nicht-binäre Personen im Zusammenhang mit geschlechtsangleichenden Operationen gem. § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V gegen die GKV haben können, ist bislang durch die Sozialgerichte nicht einheitlich geklärt worden. Dieser Beitrag fasst die aktuelle Rechtsprechung zu dieser Thematik zusammen und stellt mögliche Kriterien dar, nach welchen entsprechende Ansprüche nicht-binärer Versicherten zu bewerten sein könnten.

A.         Einleitung

Die Rechtslage hinsichtlich der Bewertung von Leistungsansprüchen transsexueller Versicherter gegen die Krankenkassen ist in der Literatur und Rechtsprechung mittlerweile weitestgehend geklärt. Insbesondere die Gerichte haben sich in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Leistungsbegehren Transsexueller beschäftigen müssen, so dass für einzelne Behandlungsmöglichkeiten weitgehend rechtssicher beurteilt werden kann, ob sie von den Krankenkassen im Rahmen des Leistungsanspruchs aus § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V erbracht werden müssen.

Diese Rechtssicherheit fehlt jedoch bezüglich der Nicht-Binarität. Den wenigen Gerichtsentscheidungen, die sich den Leistungsbegehren nicht-binärer Personen auseinandersetzen, ist bislang keine einheitliche Ansicht zu entnehmen. Daher stellt sich die Frage, ob die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Transsexualität ohne Weiteres auf die Nicht-Binarität übertragen werden kann, oder an welchen Voraussetzungen ein entsprechender Leistungsanspruch überhaupt zu messen ist.

B.         Was ist Nicht-Binarität?

Es gibt trans Personen, deren Geschlechtsidentität sich teilweise oder vollständig nicht innerhalb des binären Spektrums der Geschlechtlichkeit verorten lässt, die sich also weder (vollständig) als Mann noch als Frau identifizieren.[1] Da sie nicht den Wunsch haben „als Angehöriger des anderen[2] Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden“, fallen sie nicht unter die entsprechende Definition des Transsexualismus i.S.d. ICD-10: F64.0.[3] Diese Menschen werden als nicht-binär, non-binary, genderqueer oder genderfluid bezeichnet.[4] Ihr Anteil in der (deutschen) Bevölkerung und innerhalb der LGBTQ-Gemeinschaft wurde bislang nicht zuverlässig bestimmt.[5] Zum Teil wird geschätzt, dass 2017 alleine in Deutschland die Anzahl derjenigen Menschen, die sich weder eindeutig dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, bei etwa 160.000 lag. Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der genauen Bestimmung der Zahlen beruhen auf dem Umstand, dass nicht alle Personen, die sich als nicht-binär identifizieren, auch beim Standesamt einen Antrag auf Geschlechts- und Vornamenwechsel stellen; vorhandene Statistiken zu dieser Thematik erfassen aber nur die Fallzahlen, die sich aus dem Personenstandsrecht ergeben. [6] Gesichert ist jedoch die Erkenntnis, dass die Anzahl derjenigen trans Personen, die sich außerhalb des binären Spektrums verorten, hinter der binärer trans Personen zurückbleibt.[7]

Für nicht-binäre Personen wird nach der ICD-10 entweder die Diagnose F64.8 („Sonstige Störung der Geschlechtsidentität“) oder F64.9 („Störung der Geschlechtsidentität, nicht näher bezeichnet“) gestellt; nach der ICD-11 trifft auf sie hingegen die Diagnose HA60 („Genderinkongruenz in der Jugend oder im Erwachsenenalter“) zu, unter die auch der Transsexualismus fällt, da hiernach nur noch auf den Wunsch abzustellen ist, „als eine Person des erlebten[8] Geschlechts zu leben und akzeptiert zu werden“.

C.         Aktuelle Rechtslage

I.           Erstinstanzliche Rechtsprechung

Erstmals beschäftigten sich das SG Mannheim, das SG Berlin und das SG Hamburg mit der Frage, ob auch einer nicht-binäre Person ein Anspruch nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V auf Kostenerstattung für eine durchgeführte Mastektomie zustehen kann.[9] In allen drei Fällen ging es um nicht-binäre Personen, denen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet wurde, so dass bei ihnen eine sichtbare Brust als sekundäres Geschlechtsmerkmal vorhanden war. Die klagenden Personen hatten bereits eine Personenstandsänderung vorgenommen und als für das Geschlecht „ohne Angabe“, bzw. „divers“ eintragen lassen. In allen Fällen befanden sich die klagenden Personen überdies aufgrund von Schwierigkeiten mit einer transidenten Entwicklung in psychotherapeutischer Behandlung, wobei insbesondere die vorhandene Brust bei ihnen einen erheblichen Leidensdruck hervorrief. Im Fall des SG Berlin nahm die klagende Person zusätzlich eine Hormontherapie in Anspruch – im Fall des SG Mannheim und des SG Hamburg war dies nicht der Fall. Da jedoch in allen drei Fällen aufgrund der weiblichen Brust ein erheblicher Leidensdruck für die klagenden Personen bestand, ließen sie eine Mastektomie durchführen. Zuvor war im Fall des SG Berlin und des SG Hamburg ärztlich ausdrücklich bestätigt worden, dass dem Leidensdruck nur durch die Vornahme einer Mastektomie nachhaltig begegnet werden könne, so dass die Indikation für die Durchführung geschlechtsangleichender Maßnahmen in Form einer Mastektomie gestellt wurde. Die Krankenkassen lehnten jedoch die jeweiligen Anträge auf Kostenübernahme ab, so dass die klagenden Personen die Mastektomien zunächst auf eigene Kosten durchführen ließen und sodann gegen die Krankenkassen auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V klagten.

Alle drei Gerichte kamen trotz der leicht unterschiedlichen Sachverhalte übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung für die durchgeführten Mastektomien gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V zu bejahen sei. Denn die Mastektomie sei in den drei Fällen zur Linderung der Beschwerden der klagenden Person notwendig gewesen, § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V. Hinsichtlich der zu beachtenden Kriterien für die Bewertung des Anspruchs auf einen körperlichen Eingriff in intakte Organsysteme wurde dem Grunde nach auf die im Rahmen der Transsexualität entwickelte Rechtsprechung abgestellt, wobei die Nicht-Binarität als eine Form der Transsexualität zu verstehen sei. Hiervon ausgehend wurde die medizinische Erforderlichkeit der Mastektomie angenommen, da aus psychiatrischer Sicht davon ausgegangen werden könne, dass dem erheblichen Leidensdruck der klagenden Personen wegen der sichtbar vorhandenen weiblichen Brust durch die Mastektomie begegnet werden könne. Für die Bewertung der Erforderlichkeit stellten die Sozialgerichte auch explizit auf die Empfehlungen aus der S3-Leitlinie Trans-Gesundheit als aktuellen Stand der Forschung ab und wandten sich gegen die zuvor erfolgte Beurteilung des Medizinischen Dienstes, der sich gegen die Notwendigkeit der Mastektomien ausgesprochen hatte. Dieser Begutachtung lag die Begutachtungsanleitung aus dem Jahr 2009 zugrunde, so dass die Gerichte davon ausgingen, dass diese aufgrund der später erlassenen S3-Leitlinie Trans-Gesundheit nicht mehr dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspreche und daher für die Beurteilung des Leistungsanspruchs nicht mehr maßgeblich sein könne. Darüber hinaus bemängelte das SG Berlin, dass die Begutachtungsanleitung sich ausschließlich auf Maßnahmen bei binärer Transsexualität beziehe, so dass die Anleitung für nicht-binäre Personen schon dem Grunde nach nicht zutreffe. Das SG Hamburg stellte im Hinblick auf die Begutachtungsanleitung ferner fest, dass diese auch nicht die rechtlichen Entwicklungen im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 wiedergebe.

II.        Entscheidung des LSG Baden-Württemberg

1.          Inhalt

Die Entscheidung des SG Mannheim wurde jedoch durch das Urteil des Landessozialgerichts (»LSG«) Baden-Württemberg vom 29.06.2022 aufgehoben und der Anspruch auf eine Mastektomie verneint.[10] Der Senat ließ dabei offen, ob die Störung der Geschlechtsidentität überhaupt eine Krankheit i.S.v. § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V darstellt. Er stellte vielmehr maßgeblich darauf ab, dass auch nicht-binäre Personen genau wie transsexuelle Personen nur einen Anspruch „auf die Herbeiführung eines äußerlichen Zustandes [habe], der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des phänotypisch angestrebten (anderen) Geschlechts deutlich angenähert ist. […] Gänzlich ausgeschlossen sind hingegen Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielen, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen.“[11] Da die Mastektomie bei der nicht-binären Person dazu führen sollte, dass diese nicht mehr eindeutig als weiblich wahrgenommen würde, gleichzeitig aber auch nicht darauf gerichtet war, ein eindeutig männliches Erscheinungsbild herbeizuführen, lehnte das LSG den Anspruch nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V im Ergebnis ab. Das Gericht zog dabei einen Vergleich zu der Intersexualität und Zisidentität, für welche das Bundessozialgericht das vorstehende einschränkende Kriterium in früheren Entscheidungen festgestellt hatte.[12] Zudem führe die Entfernung der Brüste eher zu einem männlichen Erscheinungsbild, „was dem nicht-binären Verständnis der klagenden Person wiederum ebenfalls nicht entsprechen würde.“[13]

Schließlich stellte das LSG fest, dass auch die S3-Leitlinie Trans-Gesundheit nicht zur Begründung eines Anspruchs herangezogen werden könne. Denn ihr könne „schon nicht entnommen werden, dass die bei der klagenden Person (ggf.) bestehende Erkrankung mit der begehrten Operation geheilt werden kann oder (psychische) Beschwerden gelindert werden können. Die Leitlinie setzt sich hinsichtlich der Mastektomie nur mit der Technik von „maskulinisierenden“ chirurgischen Operationen und der insoweit bestehenden Patientenzufriedenheit auseinander.“[14] Damit handele es sich bei der begehrten Mastektomie nur um eine kosmetische Operation, auf deren Durchführung auch Transsexuelle oder Cis-Personen keinen Anspruch hätten. Eine andere Bewertung des Leistungsbegehrens führe daher zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung von nicht-binären und transsexuellen Versicherten. Gegen das Urteil des LSG ist derzeit die Revision beim Bundessozialgericht[15] anhängig.

2.          Kritik

Die Ansicht des LSG Baden-Württemberg, nach welcher der Anspruch nicht-binärer Personen auf die Herbeiführung eines äußerlichen Zustandes beschränkt ist, der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des phänotypisch angestrebten (anderen) Geschlechts deutlich angenähert ist und dass die Uneindeutigkeit der äußerlichen Geschlechtsmerkmale nicht begehrt werden könne, ist abzulehnen, da sie insbesondere nicht den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse widerspiegelt. Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität werden durch dieses einschränkende Kriterium praktisch von jeglicher Möglichkeit einer geschlechtsangleichenden Operation auf Kosten der GKV ausgeschlossen[16], weil es den Betroffenen der Natur der Sache nach immer darauf ankommen dürfte, nach dem chirurgischen Eingriff nicht eindeutig als weiblich oder männlich wahrgenommen zu werden. Der Ausschluss nicht-binärer Personen aus diesem konkreten Bereich der Gesundheitsversorgung ist jedoch nicht tragbar, da hierin eine Diskriminierung wegen der geschlechtlichen Identität liegt, welche nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verboten ist und auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des geschlechtlichen Identität[17] nicht mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der nicht-binären Personen vereinbar ist.

D.         Lösungsansatz

Daher stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Leistungsanspruch nicht-binärer Personen nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V auf die Durchführung geschlechtsangleichender Operationen auf Kosten der GKV nun zu bejahen ist. Hierzu ist zu unterstellen, dass bei der betroffenen Person eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert wurde, so dass ein behandlungsbedürftiger Leidensdruck besteht und mithin eine Krankheit i.S.d. Krankenversicherungsrechts vorliegt.[18]

I.           Aktueller Stand der medizinischen Erkenntnisse maßgeblich

Wegen § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V muss stets der zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Begehren geltende allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse maßgeblich sein. Für nicht-binäre Personen spiegeln sich diese derzeit sowohl in den SOC-8 als auch in der S3-Leitlinie Trans-Gesundheit wider, wobei die SOC-8 noch konkreter auf die speziell bei der Nicht-Binarität zu berücksichtigenden Besonderheiten eingehen[19]. In Bezug auf geschlechtsangleichende Operationen bei nicht-binären Personen wird nicht auf konkrete Operationsarten, wie zum Beispiel die Mastektomie oder Eingriffe im Genitalbereich, oder ein bestimmtes objektives Behandlungsergebnis abgestellt, weil gerade kein nicht-binärer Phänotyp besteht, welcher durch die Operation erzielt werden könnte. Insofern unterscheidet sich die Nicht-Binarität von der Transsexualität, bei welcher durch die Geschlechtsangleichung der Phänotyp des jeweils anderen Geschlechts angestrebt wird. Zur Behandlung der Geschlechtsinkongruenz bei nicht-binären Personen kommen daher grundsätzlich alle in den SOC-8 genannten chirurgischen Prozeduren[20] in Betracht, welche beispielsweise auch die Vornahme von Fettabsaugungen oder Nasenkorrekturen umfassen.

II.        Abgrenzung zu Schönheitsoperationen

Insofern kann die Abgrenzung zu rein ästhetisch-kosmetischen Operationen, d.h. Operationen welche nicht medizinisch indiziert und damit nicht notwendig i.S.v. § 12 Abs. 1 S. 2 SGB V sind und durch die GKV grundsätzlich nicht übernommen werden[21], im Einzelfall nicht immer eindeutig vorgenommen werden. Denn der Übergang zwischen ästhetisch-kosmetischen und medizinisch notwendigen Maßnahmen gestaltet sich zunehmend fließend, da sich die Grenzen auch angesichts des medizinischen Fortschritts zunehmend verschieben.[22] Beispielsweise wurden gesichtsfeminisierende Operationen bislang grundsätzlich als kosmetische Behandlung angesehen.[23] Jedoch sprechen sich mittlerweile Mediziner:innen aufgrund neuer Forschungsergebnisse vermehrt dafür aus, die Inanspruchnahme operativer Maßnahmen zur Gesichtsfeminisierung zwecks Minderung von Geschlechtsinkongruenz oder -dysphorie bei trans Personen als medizinisch indizierte Behandlungen zu ermöglichen.[24] Unter Zugrundelegung des einschränkenden Kriteriums der Notwendigkeit der begehrten Behandlung i.S.v. § 27 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 SGB V sind daher in Abgrenzung zu rein kosmetischen Behandlungen maßgeblich die medizinische Indikation sowie die Erforderlichkeit des Eingriffs festzustellen.

Demgegenüber ist es nicht zweckmäßig, zunächst von vornherein bestimmte Behandlungsmethoden explizit oder mittelbar durch dahingehende einschränkende Kriterien von dem Leistungsanspruch der versicherten Personen gegen die Krankenkassen herauszunehmen. Denn dies hätte zur Folge, dass bei Veränderungen in der medizinischen Sichtweise auf solche Behandlungen zunächst eine grundlegende Anpassung der Rechtsprechung erforderlich wäre, was den Zugang zu den Maßnahmen bis dahin zumindest erschweren würde. Hiervon ausgehend wäre es zweckmäßiger, eine Einschränkung des Anspruchs aus § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V flexibler und anhand variabler Kriterien vorzunehmen. Insofern ist ohnehin einschränkend zu berücksichtigen, dass § 27 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 SGB V die Notwendigkeit der begehrten Behandlung voraussetzt. Für die Abgrenzung zu rein kosmetischen Behandlungen ist daher maßgeblich die medizinische Indikation sowie die Erforderlichkeit des Eingriffs festzustellen[25].

III.      Indikation des Eingriffs

Die SOC-8 legen eindeutige Kriterien fest, anhand derer durch Ärzt:innen die Indikation zur Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation gestellt werden können.[26] Hiernach kann grundsätzlich die Indikation zur Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation gestellt werden, sofern präoperativ eine anhaltende Geschlechtsinkongruenz diagnostiziert wird, ohne dass es hierbei auf eine konkrete zeitliche Komponente ankommt. Ferner müssen andere Ursachen für die Geschlechtsinkongruenz identifiziert, bzw. ausgeschlossen werden. Psychische und physische Zustände, welche sich negativ auf das Behandlungsergebnis auswirken könnten, müssen evaluiert und mit der betroffenen Person im Zusammenhang mit den hiermit möglicherweise verbundenen Vorteilen und Risiken besprochen werden. Zudem muss präoperativ die Einwilligungsfähigkeit der Person festgestellt werden. Schließlich kann insbesondere dann eine vorausgehende Hormontherapie erforderlich sein, sofern dies nötig ist, um das gewünschte Behandlungsergebnis zu erreichen und die Hormontherapie nicht durch die betroffene Person unerwünscht oder medizinisch kontraindiziert ist. Dieses Kriterium wurde in den SOC-8 als Vorschlag gekennzeichnet, so dass davon auszugehen ist, dass es nicht zwingend zur Anwendung kommen muss, sondern nur bei entsprechend medizinischer Erforderlichkeit im Einzelfall. 

Liegen diese Voraussetzungen vor, ist ein Anspruch nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V gegeben.

E.         Ergebnis

Den Sozialgerichten Mannheim, Berlin und Hamburg ist dahingehend zuzustimmen, dass es für den Anspruch aus § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V im Zusammenhang mit geschlechtsangleichenden Operationen entscheidend darauf ankommen muss, dass die Behandlungsmaßnahme medizinisch indiziert und erforderlich ist. Die vom LSG Baden-Württemberg zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu dieser Thematik ist mittlerweile in rechtlicher und medizinischer Hinsicht überholt[27] und kann daher nicht zu einer Einschränkung des Leistungsanspruchs führen. Die ohnehin nicht auf nicht-binäre Personen bezogenen, sondern im Zusammenhang mit Zis- und Intersexualität entwickelten Kriterien sind allerspätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[28] hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Schutzes nicht-binärer Geschlechtsidentitäten nicht weiter tragfähig[29] und hätten vielmehr eine ungerechtfertigte Einschränkung des Zugangs nicht-binärer Personen zur Krankenversorgung zur Folge[30].

Vielmehr sollte maßgeblich sein, wann eine geschlechtsangleichende Operation entsprechend § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V die Voraussetzungen erfüllt, welche nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen für eine Indikation des Eingriffs vorliegen müssen. Hierfür sind die Leistungsbegehren aktuell nach der S3-Leitlinie Trans-Gesundheit sowie den SOC-8 zu begutachten. Es wäre zu begrüßen, wenn sich das Bundessozialgericht im Rahmen des gegen die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg anhängigen Revisionsverfahrens kritisch mit seiner bisherigen Rechtsprechung und dem Urteil des LSG auseinandersetzt und sich unter Berücksichtigung der aktuellen medizinischen und rechtlichen Entwicklungen mit den konkreten Bedürfnissen nicht-binärer Personen im Zusammenhang mit der Krankenversorgung auseinandersetzt und so Rechtssicherheit für die Betroffenen schafft.

DOI: 10.13154/294-9995

ISSN: 2940-3170

[1] MDK, Begutachtungsanleitung Transsexualismus, S. 14.

[2] Hervorhebung d. Verf.

[3] MDK, a.a.O.

[4] Appenroth/Castro Varela, in: Appenroth/Castro Varela, Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung, S. 12 f., 14.

[5] Esmonde et al., Aesthet Surg J 2019, 106, 108; Pöge et al., JoHM S1/2020, 1, 6.

[6] Zu dem Vorstehenden, Antwort der Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf die Kleine Anfrage der Abge-ordneten Josefine Paul BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Umsetzung des neuen Personenstandsrechts in          NRW, LT-Drucks. 17/5313, 4; vgl., Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sven Lehmann, Monika Lazar, Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Auswirkungen und Umsetzung des Gesetzes zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben („Dritte Option“), BT-Drucks. 19/9886, 3; BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 – Rn. 10 = BVerfGE 147, 1, 8 = NZFam 2017, 1141, 1142 m. Anm. Frie; Gössl/Dannecker/Schulz, NZFam 2020, 145, 146.

[7] Koehler/Eyssel/Nieder, J Sex Med 2018, 102; Richards et al., Int Rev Psychiatry 2016, 95.

[8] Hervorhebung d. Verf.

[9] Auch zu dem Nachstehenden SG Mannheim, Urt. v. 14.04.2021 – S 4 KR 3011/20; SG Berlin, Urt. v. 24.01.2022 – S 29 KR 375/21; SG Hamburg, Urt. v. 15.09.2022 – S 25 KR 519/21.

[10] Auch zu dem Nachstehenden LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.06.2022 – L 5 KR 1811/21.

[11] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.06.2022 – L 5 KR 1811/21 – Rn. 42.

[12] BSG, Urt. v. 28.09.2010 – B 1 KR 5/10 R – Rn. 18, 20 = NJW 2011, 1899, 1901; Urt. v. 04.04.2014 – B 1 KR 69/12 R – Rn. 14 = NZS 2014, 457, 458.

[13] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.06.2022 – L 5 KR 1811/21 – Rn. 44.

[14] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.06.2022 – L 5 KR 1811/21 – Rn. 45.

[15] B 1 KR 16/22; von Seiten des Bundessozialgerichts wird als voraussichtlicher Verhandlungstermin der 29.06.2023 genannt, https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Rechtsfragenuebersichten/Rechtsfragenuebersicht_01_Senat.pdf?__blob=publicationFile&v=9 (Stand: 03.05.2023).

[16] Harney/Huster/Kohlenbach, MedR 2023, 127, 136.

[17] BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 = BVerfGE 147, 1 = NJW 2017, 3643 m. Anm. Gössl.

[18] Aus Platzgründen wird auf die Frage, inwiefern der Nicht-Binarität, bzw. der Inkongruenz zwischen der Geschlechtsidentität und dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht ein eigener Krankheitswert zukommt, nicht weiter eingegangen.

[19] Auch zu dem Nachstehenden Coleman et al., IJTH 2022, 1, 80–87.

[20] Coleman et al., IJTH 2022, 1, 136.

[21] So z.B. SG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.1.2021 – L 1 KR 368/18 – Rn. 23.

[22] Graf von Finckenstein, Dtsch Ärztebl 2000, 157; Hibbeler/Siegmund-Schultze, Dtsch Ärztebl 2011, 1468, 1471.

[23] AWMF, S3-Leitlinie Trans-Gesundheit, S. 84.

[24] Berli et al., JAMA Surg 2017, 394, 399; AWMF, S3-Leitlinie Trans-Gesundheit, S. 85; a.A. SG Koblenz, Urt. v. 08.04.2021 – S 1 KR 1781/19 – Rn. 23.

[25] So auch SG Mannheim, Urt. v. 14.04.2021 – S 4 KR 3011/20 – Rn. 35, 36; SG Berlin, Urt. v. 24.01.2022 – S 29 KR 375/21 – Rn. 27; SG Hamburg, Urt. v. 15.09.2022 – S 25 KR 519/21 – Rn. 35, 36; Kasten, SGb 2020, 672, 674.

[26] Auch zu dem Nachstehenden Coleman et al., IJTH 2022, 1, 256.

[27] SG Mannheim, Urt. v. 14.04.2021 – S 4 KR 3011/20 – Rn. 33; SG Hamburg, Urt. v. 15.09.2022 – S 25 KR 519/21 – Rn. 34.

[28] BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 = BVerfGE 147, 1 = NJW 2017, 3643 m. Anm. Gössl.

[29] So auch SG Mannheim, Urt. v. 14.04.2021 – S 4 KR 3011/20 – Rn. 35; SG Hamburg, a.a.O.

[30] Harney/Huster/Kohlenbach, MedR 2023, 127, 136.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Die folgenden im Rahmen der DSGVO notwendigen Bedingungen müssen gelesen und akzeptiert werden:
Durch Abschicken des Formulares wird dein Name, E-Mail-Adresse und eingegebene Text in der Datenbank gespeichert. Für weitere Informationen wirf bitte einen Blick in die Datenschutzerklärung.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.