A. Arzneimittelausgaben und die GKV
Kosten und Einsparmöglichkeiten bestimmen seit Jahrzehnten den Diskurs im Gesundheitswesen. In wiederkehrenden Zyklen wird reformiert, evaluiert, debattiert und erneut reformiert.
War die Amtszeit von Jens Spahn als Bundesgesundheitsminister noch überwiegend von Ausweitungen des Leistungskataloges (z.B. die Erstattungsfähigkeit von Digitalen Gesundheitsanwendungen) und der Corona-Pandemie geprägt, so sieht sich sein Nachfolger Karl Lauterbach (wie nahezu alle Gesundheitsminister vor ihm) mit einer Finanzierungslücke konfrontiert. Finanzierungslücken sind zumeist Anlass dafür, einzelne Sektoren unter die Lupe zu nehmen und dort „Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben“. Mit dem GKV-Finanzierungsstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG)[1] hat der Gesetzgeber zuletzt maßgeblich die pharmazeutische Industrie ausgemacht, Einsparungen bei den Arzneimittelausgaben der GKV herbeizuführen.
B. Eckpunkte des GKV-FinStG
Das GKV-FinStG enthält ein Bündel an Maßnahmen, mit dem die Ausgaben der GKV im Arzneimittelbereich beschränkt und weiter reduziert werden sollen. Beispielhaft sind die Erhöhung des Herstellerabschlags sowie die Verlängerung des Preismoratoriums zu nennen.
Daneben finden sich jedoch auch zahlreiche Eingriffe in das 2011 eingeführte AMNOG[2]-Verfahren.
C. Hintergrund: Preisfindung bei Arzneimitteln im AMNOG-Verfahren
Auch 2011 stand die pharmazeutische Industrie im Fokus des Gesetzgebers: Im generischen Arzneimittelmarkt, indem mehrere Hersteller eines Wirkstoffes im (Preis-)Wettbewerb stehen, konnten mit Festbeträgen (§ 35 SGB V) und Rabattverträgen (§ 130a Abs. 8 SGB V) bereits erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven zu Gunsten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erschlossen werden. Mit dem AMNOG reagierte der Gesetzgeber auf den Umstand, dass für neu eingeführte patentgeschützte Arzneimittel kein Preisregulierungsinstrument zur Verfügung stand. Bis dahin konnten die Unternehmen ihre Preise frei festlegen, die Kassen mussten den geforderten Preis zahlen. Das AMNOG verfolgte nun einen zweistufigen Regulierungsansatz:
Auf der ersten Stufe erfolgt eine Zusatznutzenbewertung des Arzneimittels durch den Gemeinsamen Bundessausschuss (G-BA) auf Basis eines vom pharmazeutischen Unternehmer einzureichenden Dossiers (§ 35a SGB V). Im Dossier kann der pharmazeutische Unternehmer den Zusatznutzen seines Arzneimittel gegenüber einer – vom GBA definierten zweckmäßigen Vergleichstherapie – darstellen. Im Dossier werden insbesondere Zulassungsstudien für den deutschen Versorgungskontext aufbereitet oder eigens für das AMNOG-Verfahren generierte Evidenz dargestellt. Dieses zunächst einfach klingende Verfahren hat sich über die letzten Jahre zu einem hochkomplexen und äußerst detailreichen Bewertungsverfahren entwickelt. Beispiel für die Ausdifferenzierung sind allein die insgesamt sechs Nutzenkategorien (aufsteigend: geringerer – kein – nicht-quantifizierbarer – geringer – beträchtlicher – erheblicher Zusatznutzen)[3]. Die Dossiers umfassen regelhaft mehrere hundert Seiten.
Auf der zweiten Stufe erfolgt auf Basis des Nutzenbewertungsbeschlusses (§ 130b Abs. 1 S. 1 SGB V) (im Regelfall[4]) eine Erstattungsbetragsverhandlung zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband. Bislang folgte die Verhandlung einem einfachen Schema: Wurde dem Arzneimittel ein Zusatznutzen gegenüber der vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie zugesprochen, so war ein „Zuschlag“[5] auf die Kosten der zweckmäßige Vergleichstherapie zu verhandeln. Hat das Arzneimittel keinen Zusatznutzen, so sollte das Arzneimittel nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die der wirtschaftlichsten zweckmäßigen Vergleichstherapie. Dabei handelte es sich um eine simple und bestechende Logik: Die GKV soll nur dann „mehr“ für ein neues Arzneimittel zahlen als für den bisherigen Therapiestandard, wenn sie im Gegenzug auch „mehr“ dafür bekommt.
Diese „AMNOG-Logik“ hat sich seit der Einführung – trotz anfänglicher Widerstände – grundsätzlich etabliert, auch wenn viele Detail- und Rechtsfragen weiter offen sind.
D. Durchbrechung der „AMNOG-Logik“ durch das GKV-FinStG
Diese beschriebene Logik hat das GKV-FinStG – genauer § 130b Abs. 3 (neu) – nun durchbrochen. Das Prinzip, dass ein Zusatznutzen auch zu einem preislichen Aufschlag gegenüber dem Therapiestandard führt, soll nur noch für die beiden höchsten Nutzenkategorien („erheblich“ und „beträchtlich“) gelten. Stellt der G-BA „nur“ einen geringen oder nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen fest, so ist seit dem Inkrafttreten des GKV-FinStG „ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die zweckmäßige Vergleichstherapie.“[6] Dies gilt immer dann, wenn die vom G-BA festgelegte zweckmäßige Vergleichstherapie patentgeschützt ist oder Unterlagenschutz hat. Für Orphan-Drugs gilt die Neuregelung somit nicht, da für diese vom G-BA keine zweckmäßige Vergleichstherapie definiert wird.[7]
I. Argumentation des Gesetzgebers
Ausweislich der Gesetzesbegründung hält der Gesetzgeber die Neuregelung aus folgenden Gründen für erforderlich und angemessen zur Sicherstellung der finanziellen Stabilität der GKV in diesem Segment des Arzneimittelmarktes:
- Die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie würden sich ohnehin schon im „auskömmlichen Bereich“ befinden und
- die Deckelung der Kosten bei geringem Zusatznutzen würde einen Anreiz zur besseren Studienplanung schaffen.[8]
II. Bewertung
Der erste Teil der Begründung, dass das Preisniveau der zweckmäßigen Vergleichstherapie „auskömmlich“ sei, ist vom Gesetzgeber nicht belegt. Das verwundert auch nicht: Ein solcher Beleg wäre auch kaum zu erbringen. Wie soll die Frage der „Auskömmlichkeit“ von Arzneimittelpreisen beantwortet werden? An den Herstellungskosten? An den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung? Werden Wirkstoffkandidaten in den Überlegungen berücksichtigt, die während des klinischen Studienprogramms scheitern? Über welchen Zeitraum? Und die zentrale Frage: Wieso spielt die Auskömmlichkeit überhaupt plötzlich eine Rolle, wenn sich der Gesetzgeber mit dem AMNOG für eine nutzenbasierte Preisfindung entschieden hat und eben nicht für eine kostenbasierte Ermittlung der Arzneimittelpreise. Die Preise der zweckmäßigen Vergleichstherapien wurden nicht auf der Basis einer – wie auch immer gearteten – Auskömmlichkeit verhandelt oder festgesetzt. Sie wurden vielmehr am Nutzen ausgerichtet.
Auch der zweite Teil der Begründung hält einer kritischen Auseinandersetzung nicht stand. Durchaus kann man dafür plädieren, dass die pharmazeutischen Unternehmer noch bessere Evidenz beibringen und Studien noch zielgerichteter auf den (deutschen) Versorgungskontext ausrichten. Schaut man sich jedoch an, wie ein „geringer“ Zusatznutzen definiert[9] ist, so stellt man fest, dass die vom Gesetzgeber nun zusätzlich geforderten „patienten- und versorgungsrelevante Fragestellungen“[10] vom pharmazeutischen Unternehmer bereits beantwortet werden mussten. Es ist also auch bei einem geringen Zusatznutzen bereits eine „nicht nur geringfügige Verbesserung“ belegt worden. In der Praxis stehen dahinter bereits erhebliche finanzielle und methodische Anstrengungen der pharmazeutischen Unternehmer beim Studiendesign und Dossiererstellung.
III. Zwischenfazit
Die Argumente für die Durchbrechung der „AMNOG-Logik“ überzeugen nicht. Der Gesetzgeber bleibt schuldig, wieso nachgewiesene patientenrelevante Verbesserungen der Versorgung nicht mehr incentiviert werden. Für die pharmazeutischen Unternehmer bedeutet das neben ggf. finanziellen Einbußen auch den Verlust eines wichtigen anderen Aspektes: Planbarkeit. Ob die vorhandene Evidenz für ein Arzneimittel für die Herleitung eines Zusatznutzens ausreichend ist, konnte bislang auf Grund der praktischen Erfahrungen mit dem AMNOG einigermaßen genau prognostiziert werden. Welche Art des Zusatznutzens der Wirkstoff erreichen kann, war bisher nur schwer vorherzusagen. Bislang war es für die Weichenstellung in der Preisverhandlung jedoch allein relevant, überhaupt einen Zusatznutzen zu erlangen. Nun kommt es jedoch auf die Graduierung an, ob der Preis nutzenorientiert verhandelt werden kann oder ein „Preisdeckel“ die Verhandlung bestimmt. Hinzu tritt hier noch die Problematik des zeitlichen Verzugs: Wenn Unternehmer auf die vom Gesetzgeber – ohne Übergangsfristen – getroffene Neuregelung reagieren wollen, brauchen sie mehrere Jahre, um dies umzusetzen. Die Konsequenzen gelten jedoch ab sofort.
IV. Gouvernance im AMNOG
Die soeben beschriebene Verschiebung im AMNOG-Verfahren macht auch einen Blick auf die Gouvernance im AMNOG-Verfahren erforderlich. Also die Frage, welche Institutionen entscheiden im AMNOG-Verfahren eigentlich was? Im AMNOG-Verfahren angelegt ist, dass die erste Stufe (Nutzenbewertung) maßgeblich für den Verlauf der zweiten Stufe (Preisfindung) ist.
Für die Verhandlung des Erstattungsbetrags sind in der Nutzenbewertung insbesondere die Definition der zweckmäßigen Vergleichstherapie, die Bildung von Subpopulationen und am Ende die Feststellung eines Zusatznutzen elementar.
Schon zu Beginn des AMNOG wurde in der Rechtswissenschaft kritisiert, dass mit dem GKV-Spitzenverband eine „Bank“ des G-BA durch ihre Beteiligung bei der Nutzenbewertung Einfluss auf die Ausgangssituation der Preisverhandlung nehmen kann.[11] Die grundsätzliche Trennung von Nutzenbewertung und Preisfindung war dadurch von Anfang an durchbrochen. Mit den Änderungen durch das GKV-FinStG verschärft sich diese Thematik, da die Zahl der „preisrelevanten“ Fragestellungen erhöht wurde, etwa die Frage, ob eine zweckmäßige Vergleichstherapie patengeschützt ist oder nicht. Hier bleibt zu beobachten, ob die Änderungen des GKV-FinStG zu einer Veränderung bei den Nutzenbewertungen führen.
V. Gesetzesanwendung
In der Praxis stellt sich zur genauen Anwendung der Neuregelungen eine Vielzahl von Fragen. Dies liegt daran, dass Nutzenbewertungen in der Realität komplexer sind, als im Gesetz angelegt. So legt der G-BA nur in seltenen Fällen nur einen Wirkstoff als zweckmäßige Vergleichstherapie fest. Regelhaft werden mehrere Wirkstoffe oder gar Wirkstoffklassen benannt. Hier ist dann die Frage, in welchem Verhältnis die benannten Wirkstoffe untereinander stehen: Echtes Alternativverhältnis oder Gleichwertigkeit? Ebenso regelmäßig wird kein Wirkstoff benannt, wenn es etwa keinen zugelassenen Wirkstoff für das zu bewertende Anwendungsgebiet gibt. § 130b Abs. 3 SGB V lässt hier Vieles offen. Hier wird die Verhandlungspraxis (und zuweilen die AMNOG-Schiedsstelle) zeigen, in welcher Konstellation, welche der Neuregelungen wie zur Anwendung kommt.
E. Schluss
Beim AMNOG-Verfahren handelte es sich – bis zum GKV-FinStG – um ein in seinen Grundfesten etabliertes System. Dies hat der Gesetzgeber an einer zentralen Stelle aufgebrochen, indem er von einer (Zusatz-)nutzenbasierten Preisfindung absieht, obgleich ein neues Arzneimittel eine festgestellte (nicht nur geringfügige) Verbesserung für die Versorgung der Patientinnen und Patienten bedeutet. Es wird spannend zu beobachten, wie sich die Neuerungen im AMNOG auswirken, insbesondere in der Nutzenbewertung und der Verfügbarkeit von neuen Arzneimitteln.
ISSN: 2940-3170
[1] Gesetz vom 07.11.2022 – BGBl. I 2022, Nr. 42 11.11.2022 , S. 1990
[2] Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG), Gesetz vom 22.12.2010 – BGBl. I 2010, Nr. 67 27.12.2010 , S. 2262
[3] Definitionen sich in § 5 AM-NutzenV.
[4] In praktisch äußerst seltenen Fällen kann ein Wirkstoff ohne festgestellten Zusatznutzen nach der Nutzenbewertung in eine Festbetragsgruppe eingeordnet werden, § 35a Abs. 4 SGB V.
[5] § 5 Abs. 2 Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB V
[6] § 130b Abs. 3 S. 5 SGB V
[7] Vgl. § 35a Abs. 1 S. 11 SGB V
[8] BT-Drs. 20/3448, S. 43
[9] § 5 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 AM-NutzenV: „ein geringer Zusatznutzen liegt vor, wenn eine gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bisher nicht erreichte moderate und nicht nur geringfügige Verbesserung des therapierelevanten Nutzens im Sinne von § 2 Absatz 3 erreicht wird, insbesondere eine Verringerung von nicht schwerwiegenden Symptomen der Erkrankung oder eine relevante Vermeidung von Nebenwirkungen;“
[10] BT-Drs. 20/3448, S. 43
[11] Vorderwülbecke, PharmR 2013, 149ff.
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