Abstract: Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Beziehung zwischen dem Versichertem und seiner Krankenkasse (Versicherungsverhältnis) streng von der Beziehung zwischen den Leistungserbringern, also etwa dem Arzt oder dem Krankenhaus, und der Krankenkasse zu trennen. Wurde ein Leistungsanspruch gegenüber dem Versicherten durch die Krankenkasse abgelehnt, hat diese Ablehnung deshalb keine Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch des Leistungserbringers. Das gilt selbst dann, wenn etwa ein Krankenhaus als Leistungserbringer vor der Behandlung des Versicherten positive Kenntnis von dieser Leistungsablehnung hatte. Die – gleichsam am Rande – vom 1. Senats des Bundessozialgerichts (Urteil vom 22. Juni 2022, Az. B 1 KR 19/21 R) vertretene andere Ansicht überzeugt nicht.
A. Einleitung
Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist bekanntermaßen vom Sachleistungsprinzip geprägt. Nach § 2 Abs. 2 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das SGB IX nicht Abweichendes vorsehen. Die Krankenkassen sind deshalb – jenseits der Erbringung von Geldleistungen wie dem Krankengeld – auf eine Vielzahl unterschiedlichster Leistungserbringer angewiesen, die die dem Versicherten gegenüber der Krankenkasse zustehenden Sozialleistungsansprüche im Sinne des § 40 SGB I erfüllen und die Leistungen tatsächlich „erbringen“. Diese Situation begründet das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis, das weite Teile des Sozialrechts prägt [1] und – mit Blick auf die Ärzte, denen im Rahmen des SGB V eine Schlüsselstellung zukommt [2] – durch die Einbindung der Kassenärztlichen Vereinigung [3] sogar als Vierecksverhältnis ausgestaltet ist.
Die unterschiedlichen Rechtsbeziehungen werden vom Bundessozialgericht (BSG) eigentlich streng getrennt. So sei im Dreiecksverhältnis zwischen Versichertem, Krankenkasse und Leistungserbringer zwischen dem zivilrechtlichen „Behandlungsverhältnis“, [4] dem öffentlich-rechtlichen „Versicherungsverhältnis“ und dem ebenfalls öffentlich-rechtlichen „Abrechnungsverhältnis“ zu differenzieren. [5] Durchbrochen wurde diese Trennung unter anderem mit den Entscheidungen des 1. Senats zu den Konsequenzen einer Verletzung der in § 630e BGB geregelten Aufklärungspflicht für den Vergütungsanspruch des Leistungserbringers nach Maßgabe des SGB V. [6] Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass „Vergütung“ zwar ein gern genutzter Begriff im SGB V ist, es letztlich insoweit aber einer hinreichenden Klarheit der normativen Grundlagen für den Vergütungsanspruch fehlt, [7] erscheint gerade diese – die stets betonte Trennung der beiden Ebenen letztlich durchbrechende – Sichtweise als bedenklich. [8] Das BSG operiert auch hier mit einem immer wieder anzutreffenden Argumentationsmuster, das der Bundesgerichtshof (BGH) als dessen „streng formale Betrachtungsweise“ bezeichnet: [9] Leistungen, die ein Leistungserbringer unter Verstoß gegen Vorschriften bewirkt hat, die die Vergütung von der Erfüllung bestimmter formaler oder inhaltlicher Voraussetzungen abhängig machen, begründen danach keinen Vergütungsanspruch. Welche Vorschriften hiervon erfasst sind, bleibt dabei völlig offen; und auch wann eine „bloße Ordnungsvorschrift“ vorliegt, deren Verletzung nicht zum Wegfall des Vergütungsanspruchs führen soll, [10] wurde nie näher erläutert – obwohl der Leistungserbringer nicht nur finanzielle Nachteile erleidet, sondern auch strafrechtlichen Risiken ausgesetzt ist. [11]
Vor diesem Hintergrund ist Vorsicht geboten, wenn das BSG im Kontext der Leistungserbringung von einem Fehlverhalten im weitesten Sinne spricht und daraus zugleich rechtlich nachteilige Konsequenzen zieht. Die Entscheidung des BSG vom 22. Juni 2022 [12] gibt insoweit erneut Anlass zu einer kritischen Erwiderung – auch wenn die betreffenden Aussagen letztlich im Rahmen eines obiter dictum getroffen wurden. Es geht nunmehr um eine Konstellation, die sich im Binnenbereich des öffentlich-rechtlichen Krankenversicherungsrechts abspielt, dennoch die Grenzen der jeweiligen Rechtsverhältnisse durchbricht und zugleich die Grundlagen des Allgemeinen Verwaltungsrechts adressiert: Welche Konsequenzen ergeben sich für den Vergütungsanspruch des Leistungserbringers, wenn er die Leistung in Kenntnis der Tatsache – und damit gleichsam bösgläubig – erbringt, dass die Krankenkasse den Anspruch bereits gegenüber dem Versicherten verneint hat?
Zum besseren Verständnis der rechtlichen Problematik sollen zunächst der zugrunde liegende Sachverhalt sowie dessen Bewertung durch die Instanzgerichte kurz skizziert werden (hierzu unter B.), ehe die maßgeblichen Aussagen des 1. Senats des BSG erläutert (C. und D.) und kritisch hinterfragt werden (E.).
B. Zu den Hintergründen und den Entscheidungen der Instanzgerichte
Der stark übergewichtige Versicherte hatte bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Magenverkleinerung durch eine sogenannte bariatrische Operation beantragt. Diese lehnte den Antrag nach Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) [13] mit der Begründung ab, die Operation sei nicht ultima ratio, weil eine multimodale konservative Therapie zur Behandlung der Adipositas nicht dokumentiert sei. Der Versicherte erhob gegen diese Entscheidung keinen Widerspruch; vielmehr ließ er die Operation wenige Wochen später im Rahmen einer vollstationären Versorgung in einem Krankenhaus vornehmen. Die Rechnung des Krankenhauses über rund 7000 € wurde von der Krankenkasse nicht beglichen, was zu einem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht führte.
Das angerufene Sozialgericht verurteilte die Krankenkasse zur Zahlung des Rechnungsbetrags. Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entstehe unmittelbar mit der Inanspruchnahme durch den Versicherten. [14] Das Landessozialgericht wies die Berufung zurück und stellte dabei entscheidend darauf ab, dass die Krankenkasse kein Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V eingeleitet habe. Dies führe dazu, dass die Kasse mit dem Einwand der fehlenden Erforderlichkeit der Operation ausgeschlossen sei.[15] Beide Gerichte betonten im Übrigen, dass die im Verhältnis zum Versicherten ergangene Leistungsablehnung der Krankenkasse den Vergütungsanspruch des Krankenhauses nicht berühre. [16]
C. Die Kernaussagen des BSG
Der für das Recht der Krankenhausvergütung seit längerem allein zuständige 1. Senat ist in mehrfacher Hinsicht einen völlig anderen Weg gegangen, was zur Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung geführt hat.
I. Bariatrische Operation als ultima ratio
Die erste Überraschung dürfte eine „Klarstellung“ mit Blick auf das Qualitätsgebot bezogen auf die bariatrische Operation sein. Der Begriff der ultima ratio als rechtlicher Aspekt der Erforderlichkeit im Sinne von § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V sei nicht so zu verstehen, dass zunächst alle anderen Behandlungsmethoden ausgeschöpft sein müssten und als einzige Therapie dann die Operation des Magens verbliebe; [17] maßgeblich sei im Rahmen der Abwägung von Chancen und Risiken vielmehr, dass die voraussichtlichen Ergebnisse des Eingriffs den voraussichtlichen Ergebnissen anderer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen seien. [18]
II. Das fehlende Prüfverfahren
Anders als das LSG Baden-Württemberg als Vorinstanz sieht der 1. Senat die Krankenkasse nicht an einem Bestreiten des Vergütungsanspruchs gehindert. [19] Die Tatsache, dass die Krankenkasse – aus welchen Gründen auch immer [20] – kein Prüfverfahren nach § 275 SGB V durchgeführt hatte, bedeute keinen Einwendungsausschluss, sondern führe nur zur einer Beschränkung der Amtsermittlungspflicht des Gerichts und sei zudem bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. [21] Es bestünde keine gesetzliche Verpflichtung der Krankenkasse, ein solches Verfahren einzuleiten; lediglich die Erhebung und Verwertung derjenigen Daten, die nur im Prüfverfahren durch den MD beim Krankenhaus erhoben werden könnten, sei dem Gericht verwehrt. [22] Die Unterlassung der Krankenkasse sei einer Beweisvereitelung im Sinne des § 444 ZPO gleichzustellen, [23] woraus sich für die Kasse gesteigerte Darlegungsanfordernisse ergeben. [24] Dass in einer Fallkonstellation, in der die von der Krankenkasse vorgetragenen und belegten Tatsachen gegen die Erforderlichkeit der Operation sprechen, „das Krankenhaus nur ihm zur Verfügung stehende Daten in das Verfahren einführen“ könne, „um die Einwände zu erschüttern“, ist nicht unbedenklich – denn hier fordert der 1. Senat gerade das, was die Versäumung der heute in § 275c SGBV geregelten Ausschlussfristen verhindern sollen. [25]
III. Die Trennung von Versicherungs- und Abrechnungsverhältnis
Mit der Relevanz der ablehnenden Leistungsentscheidung gegenüber dem Versicherten befasst sich der 1. Senat ausführlich zu Beginn seiner Ausführungen. Die bestandskräftige Ablehnung des Anspruchs binde nur „die am Verwaltungsverfahren Beteiligten und die den Bescheid erlassende Behörde“. [26] Das Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenhaus und Krankenkasse sei vom Versichertenverhältnis zwischen Versicherten und Krankenkasse zu trennen. Obwohl ersteres dazu dient, die materiell-rechtlichen Ansprüche im Versichertenverhältnis zu erfüllen, sei zu berücksichtigen, dass die Leistungserbringung des Krankenhauses nicht von einer vorherigen Bewilligung durch die Krankenkasse abhängig sei. Die Beurteilung der Erforderlichkeit im Sinne des § 39 S. 2 SGB V falle in die Kompetenz des Krankenhauses, werde aber einer nachgelagerten uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterzogen. [27] Der 1. Senat folgert aus diesen Erkenntnissen, dass das Krankenhaus nicht verpflichtet gewesen sei, vorab eine Leistungsablehnung der Krankenkasse zu erfragen. [28]
In all diesen Punkten ist dem 1. Senat uneingeschränkt zuzustimmen. Mit der Rn. 14 wendet sich allerdings das Blatt, denn nun meint das Gericht feststellen zu müssen, dass das Krankenhaus keine Kenntnis von der ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse gegenüber dem Versicherten hatte. Dass selbst eine solche Kenntnis keinen Einfluss auf den Vergütungsanspruch des Hauses haben kann – der 1. Senat sieht das anders –, gilt es im Folgenden darzulegen.
D. Der „bösgläubige“ Leistungserbringer
I. Allgemeines
Mit der Frage nach den Konsequenzen einer positiven Kenntnis des Krankenhauses von der Ablehnung des Leistungsanspruchs im Versicherungsverhältnis befasst sich der 1. Senat in einem durchaus ausführlichen obiter dictum. Dieses wird in Rn. 15 eingeleitet mit den Worten: „Was zu gelten hat, wenn das Krankenhaus vor oder während der stationären Behandlung davon Kenntnis erlangt, dass die Krankenkasse (KK) – ggf. formell bestandskräftig – den Behandlungsanspruch des Versicherten wegen fehlender Erforderlichkeit abgelehnt hat, kann deshalb offenbleiben.“ Der 1. Senat lässt es sich allerdings im Folgenden nicht nehmen, sich vom „für das Recht der Krankenhausvergütung auch zuständig gewesenen 3. Senat“ zu distanzieren, der der Leistungsablehnung jegliche Relevanz für den Vergütungsanspruch abgesprochen hatte (hierzu unter II.). Erörtert wird auch, ob die Krankenkasse sich zu Lasten des Krankenhauses auf die formelle Bestandskraft der Leistungsablehnung berufen kann (III.). Die Ausführungen gipfeln schließlich in einer durchaus kreativen teleologischen Reduktion des § 275 Abs. 1c SGB V. [29] Auf die hier normierten Ausschlussfristen könne sich das „bösgläubige“ Krankenhaus „unter Umständen“ nicht berufen (hierzu IV.). Es wird zu zeigen sein, dass die Argumentation des 1. Senats mit Blick auf die Bösgläubigkeit des Leistungserbringers rechtlich nicht trägt (hierzu unter E.).
II. Zur Distanzierung vom 3. Senat
Soweit der „auch zuständig gewesene“ 3. Senat des BSG der Leistungsablehnung der Krankenkasse im Versicherungsverhältnis jegliche Relevanz für den Vergütungsanspruch des bösgläubigen Leistungserbringers abgesprochen hatte, „hält der erkennende Senat hieran nicht fest“. [30] Das Gericht zitiert eine Entscheidung des 3. Senats aus dem Jahre 2002, [31] in der dieser feststellt, dass der im Versicherungsverhältnis ergangene Verwaltungsakt das im Gleichordnungsverhältnis zur Krankenkasse stehende Krankenhaus nicht binden kann und das auch dann gelte, wenn ihm die getroffene Entscheidung „zur Kenntnis gegeben wird“. [32] Der 1. Senat begründet seine abweichende Auffassung mit dem Satz: „Dies wäre mit der späteren Entscheidung des Großen Senats vom 25.9.2007 nicht vereinbar.“ [33]
III. Die Bestandskraft der Leistungsablehnung
Naturgemäß wird auch die Frage der Bestandskraft des im Versicherungsverhältnis ergangenen Verwaltungsakts erörtert – das geschieht allerdings sehr knapp und auf eine aus Sicht des Verwaltungsrechts überraschende Art und Weise. [34] Ohne sich näher mit den Konsequenzen der im Übrigen zuvor grundsätzlich verneinten Bestandskraft des Verwaltungsakts für das Krankenhaus zu befassen, stellt der 1. Senat lediglich fest, dass er zu der Auffassung „neige“, dass „die KK sich mit Blick auf § 44 SGB X auch gegenüber dem bösgläubigen Krankenhaus nicht auf die formelle Bestandskraft der Leistungsablehnung berufen kann, wenn im Vergütungsrechtsstreit die Erforderlichkeit der Behandlung nach umfassender Prüfung des Sachverhalts festgestellt wird“. [35] Diese Feststellung sei aber zu trennen von dem infolge der Nichtdurchführung eines Prüfverfahrens bestehenden Unmöglichkeit der Krankenkasse, die fehlende Erforderlichkeit zu belegen – bei Kenntnis des Krankenhauses von der Leistungsablehnung könne dies Konsequenzen für die Handhabung des § 275 Abs. 1c SGB V bzw. § 275c SGB V haben. [36]
IV. Teleologische Reduktion der §§ 275 bzw. 275c SGB V
Der „bösgläubige Leistungserbringer“ ist dem 1. Senat offensichtlich ein „Dorn im Auge“. Angesichts der immer weitere Kreise ziehenden Rechtsprechung des Gerichts zum Wegfall des Vergütungsanspruchs [37] hätte man eigentlich auch im hiesigen obiter dictum eine entsprechende Aussage erwartet. Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses könnte schlicht entfallen, wenn es eine ihm bekannte Leistungsablehnung der Krankenkasse nicht beachtet. So weit wagt sich der 1. Senat allerdings nicht vor – wohl auch, weil es anders als etwa bei einer Verletzung der Aufklärungspflicht [38] so gar keinen gesetzlichen Anknüpfungspunkt gibt, an dem sich das „festmachen“ ließe. Der Kreativität des Senats sind aber scheinbar keine Grenzen gesetzt – stattdessen wird nämlich das durch die Bösgläubigkeit bedingte „Fehlverhalten“ des Krankenhauses verkoppelt mit einer Nichtgeltung der in § 275 Abs. 1c S. 2 SGB V bzw. heute in § 275c Abs. 1 SGB V normierten und in der PrüfvV [39] konkretisierten Ausschlussfristen: In einem Fall, in dem die Krankenkasse es versäumt hat, ein Prüfverfahren durchzuführen, könne es dem Krankenhaus „unter Umständen verwehrt sein“, „sich auf die zu seinen Gunsten eingreifenden Ausschlussfristen … zu berufen.“ Warum das so sein sollte und welche Umstände konkret eine Rolle spielen könnten, lässt der 1. Senat offen.
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